Jäger
Mund halten,
und Pioniere neigen häufig dazu, Prozesse zu führen.
Castler stellte den Diskussionsleiter vor, einen
Molekularingenieur aus Stanford, der das Podium erklomm und ein paar
Witze riss, während sich die Zuhörer in Erwartung des
Vormittagsprogramms auf den Sitzen niederließen. Bald darauf
forderte er das Publikum zur Diskussion heraus, indem er nochmals die
alte Theorie aufwärmte, nach der Langlebigkeit vom
Sexualverhalten abhängt: Zeuge viele Nachkommen, dann stirbst du
früh – zeuge weniger und lebe länger.
»Und was sagen wir dazu?«, fragte er provozierend.
»Her mit den Männern!«, rief eine junge Frau im
Hintergrund des Saals.
Ein junger Mann, der das schwarze Haar zu zwei Zöpfen
geflochten hatte, erhob sich vom Platz. Da ihm der humorvolle
Unterton des Diskussionsleiters entgangen war, äußerte er
völlig ernsthaft Kritik an der These: Sie lasse den
gesellschaftlichen Aspekt, der so wesentlich für die Analyse der
Lebensspanne eines Menschen sei, völlig außer Acht. Die
Menschen seien nun einmal Teil eines sozialen Gefüges,
erklärte der junge Mann, und keine wilden Tiere, die sich –
mit Sperma und Dotter befleckt, die Fänge und Klauen rot vor
Blut – wahllos fortpflanzten.
Der Diskussionsleiter ging höflich auf diesen Ton ein,
wechselte vom lockeren Geplauder zu ernst gemeinter Diskussion und
gab zu bedenken, dass Sex mehr sei als der Austausch zwischen
Samenzellen, auch der Austausch von Viren und Bakterien sei damit
verbunden. Wenn ein Mönch in seiner Abgeschiedenheit sehr lange
lebe, müsse es nicht unbedingt an sexueller Enthaltsamkeit
liegen. Wesentlich dafür könne auch sein, dass er
überhaupt keine Körpersäfte mit anderen Menschen
austausche. Sofort schossen unzählige Hände in die
Höhe.
»Hallo, jetzt tauen wir allmählich auf!«,
frohlockte der Diskussionsleiter. »Vielleicht sollten wir an
diesem Punkt zur Tagesordnung übergehen…«
Doch die kleine Schar der Zuhörer wollte davon nichts wissen.
Castler selbst erhob sich und stellte eine Suggestivfrage in den
Raum. Er schien die Diskussion um ihrer selbst willen zu
genießen und sich einen Teufel um den formalen Ablauf zu
scheren.
Ein großer, schwergewichtiger junger Mann und eine kleine,
wie ein Großmütterchen wirkende Dame in den Sechzigern
stellten die These auf, mit der Einstellung der Fortpflanzung ende
auch die natürliche Auslese. Mit anderen Worten: Wir seien
vollkommen aus dem genetischen Spiel, sobald wir aufhörten,
Kinder in die Welt zu setzen. Ein halbes Dutzend Zuhörer
widersprach. Ich gab ihnen Pluspunkte. Denn diese von den Vorrednern
vorgebrachte These war die gängige evolutionistische
Erklärung für das Altern gewesen, seit Bidder sie 1925
veröffentlicht hatte, und sie stimmte hinten und vorne
nicht.
Castler erhob seine Stimme über das Gemurmel hinweg und gab
den Kritikern dieser These Recht. Schließlich hänge die
Gesundheit der Gesellschaft – und damit auch die jedes
Einzelnen, der auf sie so angewiesen sei wie die Biene auf den
Bienenstock – nicht zuletzt von Wissen und Erfahrung der
älteren Generation ab. Das Pensionsalter beginne normalerweise
etwa dreißig Jahre nach der Zeit, in der man Kinder in die Welt
gesetzt habe, und auch in diesem Lebensabschnitt erfreue sich die
Großelterngeneration noch vieler Jahre in relativer Gesundheit.
Die Gesundheit einer Gesellschaft spiegele sich in beidem wider: in
der Zahl der Nachkommen und in der Lebenskraft der Älteren, die
der Gesellschaft erlaube, mehr Nachkommen aufzuziehen.
Der Hauptreferent, der bereits auf der Bühne stand, trat mit
seinen Aufzeichnungen ein paar Schritte zurück. Offenbar war er
ganz froh darüber, dass man die Tagesordnung umgestoßen
hatte.
Ich entspannte mich allmählich. Das hier waren meine Leute.
Hier fühlte ich mich zu Hause. Das hier war die Wirklichkeit.
Bald entbrannte eine Diskussion über die statistische
Tatsache, dass das entropische Maximum im Alter von zwanzig Jahren
erreicht wird – dass wir zu diesem Zeitpunkt pro Gewichtseinheit
mehr konsumieren und mehr Zellen einschließlich potenzieller
genetischer Irrtümer produzieren als in dem Alter, in dem sich
die meisten Menschen fortpflanzen. Aber trotz der relativ langsamen
Abnahme der entropischen Stabilität holen uns Alter und Tod
schließlich ein. Welche Gene sorgen dafür, dass wir
während der Zeit, in der die Entropie zunimmt (und damit auch
die Möglichkeit genetischer Defekte), gesund bleiben?
Mehrere Zuhörer äußerten,
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