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Jäger

Jäger

Titel: Jäger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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diese Frage sei zwar
interessant, aber höchst komplex, sie sprenge den vorgegebenen
thematischen Rahmen. Man solle sich nicht zu einer Diskussion
über Entropie und geschlossene Systeme hinreißen lassen.
Viel wichtiger sei die Frage der Selbstorganisation offener komplexer
Systeme.
    Castler würgte die aufflammende Debatte zwischen zwei
Möchtegern-Physikern, die gern die Unterschiede zwischen offenen
und geschlossenen Systemen erörtert hätten, rasch ab.
    »Darf ich jetzt das Wort ergreifen?«, fragte der
Hauptreferent, ohne dass ihn irgendjemand beachtete.
    Als Nächste warf Frieda Castler eine witzige Bemerkung in die
Debatte: Wenn unsere Lebensspanne tatsächlich mit der Dauer der
Kinderaufzucht zusammenhänge, müsse man den Versammelten
zugestehen, tausend Jahre zu leben. Denn so lange werde es dauern,
die wahren Menschenkinder – die auf Silikon basierenden
künstlichen Intelligenzen der Zukunft – zu erziehen und
auszubilden. Geistreich, aber belanglos. Ich setzte nicht auf
Silikon, sondern auf Schleim. In dieser Hinsicht unterschied ich mich
von Gus Beck, den Castlers und den meisten Zuhörern im Saal.
    Zumindest brachte die Konferenz meine Lebenssäfte in Wallung,
und das war einer der Gründe, warum ich hingegangen war.
    Noch ehe der Hauptredner Gelegenheit hatte, seinen Vortrag zu
halten, unterbrachen wir zur Mittagspause. Von einem Tisch an der
Rückwand des Saals holten wir uns Lunch-Pakete mit belegten
Broten, Äpfeln, Keksen und alkoholfreien Getränken. Ich zog
mein Paket aus dem untersten Stapel und verzehrte es auf einer Bank
im Hof. Während ich ganz allein dasaß, sah ich zu, wie der
Wind rund um einen ausgetrockneten Brunnen Blätter
aufwirbelte.
    Niemand setzte sich zu mir. Die Leute gingen in kleinen Gruppen an
mir vorüber und schlenderten weiter.
    Ich aß langsamer. Spürte, wie die Niedergeschlagenheit
wieder Besitz von mir ergriff. Klar, Castler und Frieda hatten sich
über das Wiedersehen wirklich gefreut, aber andere Kollegen
hatten schärfere Instinkte bewiesen.
    Wie der biblische Unglücksvogel Jonas war ich während
meiner Seereise im Bauch des Wals gelandet. Und der Fischgestank hing
mir immer noch an.
    •
    AY3000, der nach der Mittagspause im Rollstuhl vorfuhr, wurde
hinten im Saal sofort von Anhängern umringt. Mir kam er wie das
rollende Exponat eines Museums vor, das sich der Dokumentation von
Sterblichkeit verschrieben hat. Über dem Schädel war die
Haut straff gespannt, das Kopfhaar bis auf wenige weiße
Strähnen ausgefallen. Auf seiner Stirn glänzten
Schweißtropfen. Er war kaum in der Lage, die dünnen,
knochigen Finger zu heben, um all seinen Gönnern und geistigen
Kindern, den Studenten, die Hände zu schütteln. Noch immer
lag ein Glanz in seinen Augen, wie ich selbst aus zehn Metern
Entfernung erkennen konnte. Ein Leuchten, von der Überzeugung
gespeist, dass unsere Geburtsurkunde nicht mit dem Todesurteil
gleichzusetzen ist.
    Ich konnte mir nicht vorstellen, dass dieser ehrwürdige Greis
Kollegen mit Telefonanrufen terrorisierte.
    Bettina, die seit dreißig Jahren mit ihm verheiratet und
Anfang sechzig war, schob seinen Rollstuhl und wischte ihm mit einem
Taschentuch den Mund ab. Über ihrer hohen Stirn wölbte sich
eine dichte silberweiße Haarmähne. Nach zehn Minuten schob
sie AY aus dem Kreis seiner Gönner nach draußen, damit er
etwas Luft schnappen konnte, ehe die Konferenz weiterging. In dem
Saal würde die Luft stickig werden und AY zu schaffen machen.
Und alte Männer neigen nun mal dazu, überall einzuschlafen.
Die Menge teilte sich artig.
    Als Bettina ihren Gatten an der hintersten Reihe
vorüberschob, in der ich saß, drehte AY den Kopf und
schlug mit der flachen Hand kraftlos auf die Armlehne des Rollstuhls.
Bettina gehorchte und blieb stehen. Mit einem seiner welken,
bleistiftdünnen Finger auf mich deutend, krächzte er:
»Rob Cousins, Sie sind doch tot.«
    Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken.
    Während Bettina ihm etwas ins Ohr flüsterte, blinzelte
er irritiert.
    »Vergeben Sie mir«, sagte er. »Das Schlimmste
daran… ist der Verlust der Erinnerung. Für mich bedeutet
Erinnerung dasselbe wie Seele. Ihr Bruder war ein großer Mann.
Größer als Sie und bedeutender. Er hat mich oft angerufen
und mit mir gesprochen. Mir Ratschläge gegeben.
Anweisungen.«
    Mein Gesicht brannte.
    »Viel bedeutender als Sie«, beharrte AY. »Eindeutig
der klügere Zwillingsbruder.«
    »Sei still«, mahnte Bettina.
    »Warum haben Sie Dr. Mauritz

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