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Jäger

Jäger

Titel: Jäger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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Wir alle haben ihn. Aber meinen haben die weit aufgerissen.« Mit einer ruckartigen
Bewegung griff er nach der Zigarette. »Die Personen, mit denen
ich mich befasste, nahmen Gestalt an. Ich begann, sie nachts zu
hören, sie flüsterten mir ungeheuerliche Dinge ins Ohr.
Manche Menschen spüren die Gegenwart von Schutzengeln. Mein
ständig gegenwärtiger Engel ist das Ungeheuer, mit dem ich
mich fast mein ganzes Leben, zumindest seit ich erwachsen bin,
befasst habe.« Seine Lippen kräuselten sich. »Ein
angenehmer Gefährte in den frühen Morgenstunden.«
    Mit der Zigarette in der bandagierten Hand, den Filter zwischen
den tabakbraunen Fingern zusammenquetschend, näherte sich
Banning meinem Bett. »Ich bin ein Paria«, flüsterte
er. »Ich bin unrein, nicht mehr verwendungsfähig. Die Juden
haben dafür gesorgt, dass ich nichts mehr veröffentlichen
und nicht mehr unterrichten kann. Das ist die Wahrheit. Aber
so sehr ich auch versuche, meine dunklen, hasserfüllten Engel zu
ignorieren, sie kreisen mich ein und stoßen wie Harpyien auf
mich herab. Ich habe die Götter beleidigt.«
    Ich konnte Ks – oder Rudy Bannings – Gegenwart nicht
mehr ertragen. Mir war übel. »Ich muss gehen«,
erklärte ich und versuchte verzweifelt, auf die Beine zu kommen.
Ich sackte zu Boden.
    »Seien Sie nicht albern«, sagte er und half mir behutsam
wieder aufs Bett zurück. »Wo wollen Sie denn hin? Sie
brauchen Schlaf.«
    Obwohl ich heftig dagegen ankämpfte, fielen mir die Augen
zu.
    »Wir versuchen morgen, eine Erklärung für das zu
finden, was passiert ist«, sagte Banning. »Ich werde Mrs.
Callas anrufen und einen Termin mit ihr ausmachen. Und ich werde
Ihnen mehr über Ihren Bruder erzählen.« Seine Stimme
schien von sehr weit herzukommen. »Und über den
Baikalsee.«

 
Kapitel 22
     
    Der ziegelrote Widerschein des Morgens drang durch den Luftschacht
in unser Zimmer. Ich setzte mich im Bett auf und griff nach Robs
Umschlag, der immer noch auf dem Nachttisch lag. Die Hundekrallen
hatten Risse im braunen Couvert hinterlassen und eine Lage des
Klebestreifens wie eine Ziehharmonika zusammengeschoben, aber der
Inhalt war unversehrt.
    Banning schlief zur Seite gedreht im anderen Bett und schnarchte.
Ich ging ins Badezimmer, putzte mir die Nase und wusch mir das
Gesicht. Ich hoffte, mir würde genügend Zeit bleiben, das
Päckchen allein und in Ruhe durchzugehen.
    Mein Rücken war eine einzige Ansammlung von Prellungen und
blauen Flecken. Mein Hals schmerzte und meine Hand fühlte sich
an, als sei sie durch den Fleischwolf gedreht worden. So wie es
aussah, war ich nicht in der Verfassung, mich in irgendwelche
Abenteuer zu stürzen.
    Vorsichtig nahm ich die Verbände ab, desinfizierte die Wunden
und verarztete sie mit den Mullbinden und Klebestreifen, die man mir
im Alta Bates mitgegeben hatte. Als ich das erledigt hatte, klappte
ich den Toilettendeckel herunter, nahm darauf Platz und schob die
Klinge meines Taschenmessers unter die zugeklebte Lasche des
Umschlags. Die Haare zu durchtrennen kam mir in meiner
Verschlafenheit wie eine höchst symbolische Geste vor. Hatte ich
davon geträumt? Dies alles schon einmal im Schlaf vollzogen?
    Der Umschlag war in großer Eile mit Papieren voll gestopft
worden. Es waren mehr als hundert Blatt Schreibmaschinenpapier,
linierte Seiten aus einem Notizblock, herausgerissene Zettel aus
Merkheften, Hotelbriefpapier (der Briefkopf in kyrillischer und in
lateinischer Schrift) aus den Intourist Hotels in Irkutsk und
Listwjianka. Hastig hingekritzelte Notizen steckten zwischen den
Seiten von drei dünnen Manuskripten, von denen zwei mit
Schreibmaschine getippt und eines mit einem Tintenstrahlgerät
ausgedruckt worden war, das die unteren Zeilen jeder Seite
verschmiert hatte. In allen drei Manuskripten waren einzelne Passagen
gelb markiert.
    Auf einer Ansichtskarte war der Baikalsee abgebildet, aus dem
heißer Dampf aufstieg. Die Rückseite der Karte war leer,
sie war nie abgeschickt worden. »Der tiefste, größte
und älteste See der Welt speichert ein Fünftel des
Süßwassers der Erde! Jeder Schluck davon
verjüngt!«, besagte ein Aufdruck.
    Ich bemühte mich, mir in Erinnerung zu rufen, was ich
über den Baikalsee wusste. Es gab Vulkanismus in der Gegend
– Gase, die den See erwärmten, und häufige Erdbeben.
Heiße Bäder und Heilwasser.
    Auf dem Boden des Umschlags fand ich, zusammengehalten von einem
dicken Gummiband, ein Taschenbuch, eine Auto-Club-Straßenkarte
von Kalifornien und ein kleines,

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