Jäger
Lebensgemeinschaften auf
dem Grund des Ozeans. Der Ort, an dem alles begann? Der Garten
Eden?
Ich blickte von dem Tagebuch auf und starrte in Gedanken versunken
die Wand an. Zunächst empfand ich eine leise Verärgerung
darüber, dass mein Bruder auf derselben Fährte wie ich
gewesen war, dann einen Anflug von Familienstolz und
schließlich eine brennende, mir die Röte ins Gesicht
treibende Wut, dass irgendjemand schon vor uns beiden einer
Lösung nahe gekommen war. Und das in den Dreißigerjahren,
falls ich richtig gelesen hatte. Was hatten sie damals noch alles
gewusst?
G. wollte die Ursachen des Alterns verstehen. Intuitiv erkannte
er, dass Krankheit und Altern sehr eng miteinander verwandt sind.
Dachte wahrscheinlich, dass Bakterien am meisten vom Altern und von
unterschiedlichen Krankheiten profitieren. Schließlich bieten
Leichen den Bakterien wunderbare Gelegenheiten für Fressorgien.
Seine frühen Theorien gehen alle von dieser Prämisse
aus.
G. untersuchte, auf welche Weise Parasiten ihre Wirte steuern.
Von Parasiten befallene Ameisen erklimmen die Spitzen von
Gräsern und werden von Vögeln gefressen; die nächste
Phase der Entwicklung des Parasiten findet im Vogel statt. Ratten mit
Toxoplasmose haben Zysten im Gehirn, keine Angst vor Katzen, werden
gefressen, jetzt sind die Katzen die Träger der
Toxoplasmose. Wolbachia, weit verbreitete Bakterien, kontrollieren
tatsächlich die Fortpflanzung von Wirtsinsekten und anderen
Gliederfüßlern.
Später widmete sich G. dem Studium der von Parasiten
produzierten bewusstseinsverändernden Substanzen und verglich
sie mit bakteriellen Erzeugnissen. Viele Darmbakterien kommunizieren
mit Zellen des Verdauungstrakts. Auch sie verändern das
Wirtsverhalten, wie er herausfand.
G. entdeckte bereits 1927-28 »Kammern« oder
Kompartimente in Zellen.
Nach ihrer Verhaftung droht man G. und seiner Frau mit
Deportation (Probleme, weil er Jude war?). G. versucht seine Haut zu
retten, fährt nach Moskau und weiht B. in seine Forschungen ein.
Schlägt ihm vor, die Gedärme von Versuchspersonen –
Häftlingen – mit veränderten Bakterien zu infizieren.
Soll die Gefangenen gefügiger machen und zum Reden bringen.
Mischung wird mit dem Essen verabreicht. Beginn von Silk.
B. lässt G. frei und finanziert dessen Forschungsprojekt.
Für die nächsten zwanzig Jahre schönste Harmonie mit
Koba.
Keine der Initialen sagte mir etwas. Und wer, zum Henker, war
Koba? Ich blätterte um und las weiter.
Ein vergeudeter Tag im Limnologischen Institut. Niemand will
über G. reden.
Die Leute an der Universität sind offener. Sie sagen, G.
habe sich sehr für die »Kleinen Mütter der Welt«
interessiert. So nennen osteuropäische Mikrobiologen die
Bakterien, wenn sie sentimental gestimmt sind. G. hat sich für
netzwerkbildende Mikroben interessiert. Das ist die Bezeichnung, die
wir heute benutzen würden, aber damals existierte sie in dieser
Wortbedeutung noch gar nicht. Wie kooperieren diese
Bakteriengemeinschaften miteinander? Wie kommunizieren sie mit ihrem
Wirt? G. war seiner Zeit weit voraus. Wäre möglicherweise
auch vielen der Biologen von heute weit voraus. Kann die
einschlägigen Unterlagen nicht in der Bibliothek finden, doch
meine Führer Tur. und Ch. von der Univ. sagen, das liege
daran, dass B. sie nach Moskau mitgenommen hat. Wollte damit die
marxistische Theorie aus naturwissenschaftlicher Sicht
belegen!
Den Russen sagt man einen derben schwarzen Humor nach, aber der
Humor der Sibiren ist noch um einiges schwärzer –
pechschwarz!
Ich war so in Robs Aufzeichnungen vertieft, dass ich fast von der
Toilette gefallen wäre, als Banning an die Tür klopfte. Ich
schlug mir das Knie am Rand der Duschkabine auf, die Papiere fielen
zu Boden.
»Alles in Ordnung da drinnen?«, erkundigte sich
Banning.
»Nichts passiert«, rief ich, raffte die Papiere zusammen
und hob sie von den Fliesen auf. Da ich nur einen Bruchteil der
Seiten hatte lesen können, schwirrte mein Kopf vor
unausgegorenen Hypothesen. Bakterien, die das Bewusstsein
kontrollierten – du lieber Himmel! Rob und ich hatten uns in
unserer Kindheit und Jugend wegen idiotischer Dinge – vor allem
wegen Mädchen – so oft angelogen, dass ich versucht war,
kein Wort von dem zu glauben, was ich gelesen hatte. Vielleicht hatte
er zu viel von dem gepfefferten Wodka getrunken, von dem er
berichtete, und darüber den Verstand verloren. Oder er war unter
Bannings Einfluss geraten…
»Haben Sie ein
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