Jäger
in schwarzes Kunstleder gebundenes
Tagebuch. Das Buch stammte von Benjamin Bridger und trug den Titel Das Massengrab – eine Geschichte der sowjetischen
Invasion Deutschlands vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Das Bild
auf dem Umschlag – es zeigte, wie Hammer und Sichel eine
Nazi-Fahne zerfetzen – erkannte ich wieder. Auf der Innenseite
des Deckblatts standen in sorgfältig gemalter, kindlicher
Blockschrift zwei Namen: Hal und Rob Cousins. Beide hatten wir in
unserer frühen Jugend gern Geschichtsbücher gelesen.
Bridger war einer unserer Lieblingsautoren gewesen.
Das Buch war aus meinem Regal verschwunden, als wir vierzehn
waren, und ich hatte Rob beschuldigt, es gestohlen zu haben. Jetzt
gab er es mir wieder zurück. Ich legte das Buch beiseite und
schlug das Tagebuch auf, das mit großzügig geschwungenem
Gekritzel voll geschrieben war. Ich konnte kaum meine eigene
Handschrift lesen, geschweige denn Robs.
Noch etwas steckte am Boden des Umschlags. Als ich ihn umdrehte
und schüttelte, fiel ein Ring mit drei Schlüsseln klirrend
auf die schwarz-weißen Bodenfliesen. An dem Ring war ein
Schildchen befestigt, auf dem eine Adresse in San José
stand.
Ich rieb mir über den Nasenrücken. Wollte ich
überhaupt wissen, womit sich Rob kurz vor seinem Tod
beschäftigt hatte? Mit dem Einfühlungsvermögen, das
nur Zwillinge besitzen, war mir sofort klar, dass mein Bruder die
Auswahl mit Bedacht und Freude getroffen hatte. Und dass der Inhalt
mich auf die Jagd nach einem Phantom schicken würde. Vielleicht
hatte er sich aber auch ein Rätsel für mich ausgedacht, das
ich lösen sollte – als nette kleine Herausforderung
für den arroganten Prinz Hal. Noch schlimmer.
Ich nahm meine Morgendosis Integumycin und zwei Tabletten T3
– Acetaminophen mit Codein – ein. Ich hasste Codein, aber
ein Summen im Kopf war besser als pochende Schmerzen.
Als ich hörte, wie Banning sich im anderen Raum bewegte,
verriegelte ich die Badezimmertür und schlug das Tagebuch
irgendwo in der Mitte auf.
Heute Morgen nach sieben oder acht Stunden aus Moskau in
Irkutsk angekommen. Taxi. Für fünfzig Dollar bist du einen
Tag lang der König. Habe mich mit Ch. und Tur. im
Hotelrestaurant getroffen und sibirischen Lachs gegessen –
wirklich köstlich. Sie brachten mich zu ihrem kleinen See-Museum
abseits der frisch geteerten Straße, die jetzt ul K Yenisei
(früher ul K Dzerzhinskowa) heißt. Fidele Burschen. Ein
paar Gläser gekippt, gepfefferten Wodka, auf die Dezembristen
getrunken, dann Rundgang durch das alte See-Laboratorium und das
Museum. Die Leute aus dem Limnologischen Institut machten einen Bogen
um uns. Das Laboratorium ist voll mit Exemplaren aus dem Baikalsee,
jungen Süßwasserrobben (in Glasbehältern), die Nerpas
heißen; kleines altertümliches Labor mit ebenso
altertümlichen Gerätschaften.
Hier hat G. an seinen frühen Forschungen
gearbeitet.
Ch. und Tur. zeigten mir ein Aquarium mit kürzlich
geernteten Süßwasser-Xenos. Massiv, dreißig
Zentimeter im Durchmesser. Wasser riecht nach Sulfiden. Ventilator
läuft ständig, um die Luft in dem kleinen, dunklen Raum
erträglich zu machen. Ch. bestätigt, dass diese Xenos
Ur-Kinetoplasten enthalten. Sehr primitiv, manche leben immer noch
frei auf dem Grund des Sees. Tur. erklärt: Das Wasser ist voll
von Xenos und von Schleiern gallertartiger, semipermeabler Membrane,
die von Bakterienwolken begleitet werden. Im nordöstlichen
Winkel ist die Oberfläche des Baikalsees dickflüssig,
gallertartig von Polysaccharidketten und manchmal auch ölig
durch eine extrem hohe Konzentration von Phospholipiden, vermischt
mit dem bakteriell verseuchten Abwasser einer einschlägig
bekannten Zellstofffabrik (sechshundert Meilen südlich).
Allerdings ist der Schleim auf dem Wasser an Ort und Stelle
entstanden. Er stammt vom Grund des Sees, aus der näheren
Umgebung von Geysiren.
Der Regen bildet hier im Wasser kleine, fettige Tropfen,
Protozellen, die auf den Grund sinken und dort von Bakterien
besiedelt werden. Bakterien benutzen Polysaccharidketten, wie Hunde
Bäume benutzen: um kommunale Zentren zu bilden und den lokalen
Mikroben-»Tratsch« weiterzuverbreiten. G. hat dies alles
bereits in den Zwanziger- und Dreißigerjahren (bevor das
Zellstoffwerk in Betrieb genommen wurde) erkannt und
untersucht.
Der Baikalsee ist höchstens vierundzwanzig Millionen Jahre
alt. Doch das Leben im Umkreis der Unterwasserschlote besitzt eine
verblüffende Ähnlichkeit mit den
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