Jäger
verstand nicht die Hälfte dessen, was er da vor sich hin
murmelte.
»Die Juden waren es«, brummelte er weiter. »Krupp
war in Wirklichkeit ein Jude, wussten Sie das? Ebenso wie
Rockefeller. Sie wollten, dass die ganze Welt in den Krieg
hineingezogen wird. Lesen Sie mein letztes Buch, falls Sie anderer
Ansicht sind. Ist mit jeder Menge Erläuterungen und Anmerkungen
versehen. Wir haben in einem Jahrhundert der Täuschungen und
Irreführungen gelebt.«
»Ich bin wirklich müde«, stöhnte ich und
rollte mich auf dem Bett zusammen.
K drehte mir sein Gesicht zu. Tränen liefen über seine
Wangen.
»Ich war der Beste, den es gab, wenn es darum ging, die
dunkle Seite der zeitgenössischen Geschichte zu
beleuchten«, sagte er. »Der Allerbeste. Ich bin es heute
noch.«
»Warum haben Sie dann so viel Mist im Hirn?«, erkundigte
ich mich. Angesichts dessen, was er in den letzten paar Stunden
für mich getan hatte, verhielt ich mich recht undankbar.
»Habe ich das?«, fragte er tieftraurig und deutete mit
den langen, knochigen Fingern auf die Schläfe. »Ich habe
die meiste Zeit meines Lebens mit dem Versuch verbracht, das
zwanzigste Jahrhundert zu verstehen. Hundert Jahre Nagelstiefel, die
die Gesichter von Menschen zu Hackfleisch zerstampft haben. Ich habe
die verbrecherischsten Dokumente, die abscheulichsten amtlichen
Schriftstücke, die je von Menschen ersonnen wurden, der
Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Ich musste das alles
lesen, Motive entschlüsseln, die psychologischen
Hintergründe analysieren, um zu begreifen, wie solche Dinge
möglich waren. Ich kam mir vor wie ein Arzt, der eine lange
währende, schreckliche Krankheit diagnostiziert. Vielleicht
bestand mein Fehler darin, dass mein Verstand, mein Herz und meine
Seele allzu offen waren. So konnten Gespenster eindringen, böse,
traurige, unglückliche Gespenster.«
Ich rollte mich herum und sah ihn an. »Warum hat sich mein
Bruder überhaupt an Sie gewandt?«
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ich
wünschte, ich wäre selber Jude. Dann würde ich die
letzten Antworten kennen. Ich würde Zugang erhalten… wenn
ich die geheimen Zeichen lesen könnte, den genetischen Code. Sie
schwenken eine besondere… Schachtel… über deinem Kopf.
Sie schwenkt nach rechts und links, wenn du das Blut Aarons in deinen
Adern hast, und vor und zurück, wenn du zu den Leviten
gehörst. Dann sagen sie dir…«
Jetzt reichte es mir. Ich schwang die Beine über die
Bettkante, setzte mich mit einiger Mühe auf, wobei ich
spürte, wie sich in meinem bandagierten Hals das Blut staute und
meine Hand pochte, und angelte nach dem Hemd.
»Gehen Sie nicht«, sagte K mit stockender Stimme.
»Bitte. Ich vermisse Ihren Bruder wirklich sehr. Er hat mich so
gesehen, wie ich wirklich bin.«
»Wie heißen Sie eigentlich mit richtigem Namen?«,
fragte ich.
»Banning. Rudy Banning. Meine Mutter hieß mit ihrem
Mädchennamen Katkowicz. Sie war Polin. Ich bin Kanadier von
Geburt und Brite, was meine Nationalität angeht. Ich habe
dreiundzwanzig Bücher über die Geschichte Deutschlands und
Osteuropas verfasst. Zwölf Jahre lang war ich ein sehr
geachteter Professor in Harvard.«
Er nahm sich zusammen und stand auf, griff nach seiner Jacke und
kramte aus einer ihrer Taschen eine zerknitterte Packung Zigaretten
hervor. Er schüttelte eine Zigarette heraus und steckte sie sich
in den Mund, klopfte sämtliche Taschen ab, konnte jedoch keine
Streichhölzer finden. Während er weitersprach, baumelte die
Zigarette zwischen seinen Lippen, ihre Spitze hüpfte auf und ab.
»Irgendwann habe ich Recherchen über ein sowjetisches
Projekt zur Herstellung künstlicher Seide angestellt, ein
Projekt der Dreißigerjahre. Dabei bin ich auf wichtige
Dokumente gestoßen. Um eine sehr lange Geschichte kurz zu
machen: Ich bin den Flammen zu nahe gekommen, sie haben mir die
Flügel versengt.«
»Und was hat das alles mit meinem Bruder zu tun? Oder mit den
Juden?«, erkundigte ich mich.
Seine Augen funkelten und die Lippen zuckten, als kämpfe er
gegen die nächsten Worte an. »Sie haben schließlich
gemerkt, wie nahe ich dran war.«
»Die Juden?«
Er schüttelte den Kopf, deutete mit gestrecktem Finger auf
sein Ohr und zog eine Augenbraue hoch. »Die hatten es gar nicht
nötig, mich umzubringen… War ja viel besser, mich in Verruf
zu bringen. Ihr Ansatzpunkt war ein Trauma, das ich meinem Vater und
meinen Großeltern verdanke. Ein kleiner Riss in der
Wirklichkeit, durch den die Urangst sickert.
Weitere Kostenlose Bücher