Jaegerin der Daemmerung
Reinheit sorgten. Sie überreichte das Räucherwerk Shea, die sich in die westliche Ecke gestellt hatte.
Als diese auf ihre Hand blickte, war ihr, als sähe sie die verdorrte, fast wächserne Hand ihrer Mutter. Ihr Fleisch schrumpfte, wurde dünner und dünner. Die Stimmen um sie herum traten in den Hintergrund, bis sie von Stille eingehüllt war - der Stille ihrer Kindheit, als sie sich nicht enden wollende Tage in einem verfallenen Haus versteckt gehalten hatte. Nur zu gut konnte sie sich daran erinnern, wie das Licht ihre Haut verbrannt hatte; wie das kleine Kind sich in die Ecke gekauert und versucht hatte, ausreichend Nahrung für seinen hungrigen Magen zu finden.
»Meine Liebste«, raunte Jacques. »Ich bin bei dir.«
Mach weiter, Ivory. Ich weiß, dass du an dir selbst zweifelst, aber das Blatt beginnt bereits, sich zu wenden. Du fügst weder den Frauen noch den Babys Schmerzen zu. Das Böse muss aufgehalten werden, sprach Razvan ihr Mut zu.
Dankbar für die aufmunternden Worte, glitt Ivorys Blick zu Razvans geliebtem Gesicht. Wie stark er war. Wie unermüdlich sein Glaube an sie. Sie straffte die Schultern und blickte in den seidenen Beutel, um den letzten Stein auszuwählen.
Ihre Wahl fiel auf den Bernstein, dessen große Zauberkraft vor allem bei Problemen rund um die Fruchtbarkeit als auch zum Schutz eingesetzt wurde. Dem Glauben nach verband das versteinerte Harz - gleichwohl Symbol für Mutter Natur - Erde, Feuer, Luft und Wasser miteinander. In Ivorys Stein mit seinem fast schon lebendigen Leuchten war eine Honigbiene mit ausgebreiteten Flügeln eingeschlossen. Ehrfürchtig legte sie ihn in die nach Norden zeigende Ecke.
Ich rufe den Norden an und die Erde, die wiedergeboren werden kann.
Ich möchte all dies ungeschehen machen.
Nachdem sie sich nach Norden hin verbeugt hatte, zeichnete sie ein Kreuz in die Erde, in derselben Haltung, in der Xavier sein Gemisch aus Herzblut, Bosheit und Hass in seinem schwarzen Zirkel vergossen hatte. Anschließend entzündete sie ein Räucherstäbchen, das einen Duft nach Weihrauch und Myrrhe verströmte - eine kraftvolle Kombination, wenn es um Reinigung und Schutz ging. Syndil, die Letzte im Bunde, nahm das kraftvolle Räucherwerk und blieb in der nördlichen Ecke stehen. Da sie in etwa wusste, was sie erwartete, schloss sie die Augen. Sogleich sah sie ihren verlorenen Bruder auf sie zuschweben. Savon streckte die Hände nach ihr aus, zerrte mit gierigen Fingern an ihren Kleidern, drang in sie ein und versenkte schließlich erbarmungslos seine langen Fangzähne in ihren Hals und trank begierig von ihrem Blut.
Barack füllte ihren Geist mit unendlicher Wärme und der Essenz dessen, was er war. Ihr Gefährte. Ihr Beschützer. Ihr Liebhaber. Ihr Ein und Alles, der sie stützte, während sie die furchtbare Erinnerung an den lange zurückliegenden, aber nicht vergessenen Angriff noch einmal durchleben musste.
»Sei unbesorgt, ich werde nicht zusammenbrechen«, sagte Syndil laut. »Mach weiter.« Ivory stellte sich in die Mitte des Kreises zu den Säuglingen, streckte die Hände in die Höhe und sagte mit flehender, respektvoller Stimme:
Ich rufe dich an, Mutter Erde, in deren Schoß ich lange geweilt habe,
die mich genährt und mir die Kraft für meinen Kampf gegeben hat.
Gib mir die Macht, den Zauber des Bösen umzukehren.
Als Antwort darauf erfüllte nun ein lebendiges Schimmern die Höhle. Die Flammen der Kerzen schossen in die Höhe, warfen habgierige, alles verschlingende Schatten an die Wände. Ein schneidender Wind heulte durch die Höhle, der Boden erwachte zum Leben, und die Stalaktiten gerieten ins Schwanken, drohten herabzustürzen. Immer mehr blutige Schweißtropfen traten aus Ivorys Körper.
Das Böse brannte in ihren Adern, fraß an ihr und ließ sie von innen heraus verwesen. Unrat beschmutzte sie, verunreinigte ihre Seele. Sie konnte deutlich spüren, wie das Fleisch von ihren Knochen fiel. Vor ihrem inneren Auge erschien Xaviers Fratze, und sein durchtriebenes Lachen hallte blechern durch ihr Bewusstsein, während er mit seinem knochigen Finger, der mit einem spitzen schwarzen Fingernagel bewehrt war, auf sie deutete.
Langsam und zögerlich traute Ivory sich, ihren Kopf zur Seite zu drehen. Die Zwillinge lagen leblos da, ihre kleinen Leiber waren so schwarz wie ihre Seele. Ihr Mund öffnete sich, und sie stießen einen lautlosen Schrei des totalen Entsetzens aus.
Nein! Razvan verlor keine Zeit und verband sich mit ihr, um seine Kraft mit
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