Jägerin der Dunkelheit - Feehan, C: Jägerin der Dunkelheit - Shadow Game (Ghost Walkers # 1)
das Essen und das Schlafen vergaß und nicht daran dachte, mit anderen zu reden. Daher konnte sie ihrem Vater schwerlich vorwerfen, dass er genauso war. Aber diesmal würde er verdientermaßen einiges von ihr zu hören bekommen, und er würde sich Zeit nehmen und ihr alles erzählen müssen, was sie über Captain Miller und seine Männer wissen wollte. Sie würde keine Ausflüchte gelten lassen.
Ihr Chauffeur grinste ohne jede Spur von Zerknirschung. »Selbstverständlich.«
»In ein paar Minuten bin ich zu Hause. Sei so lieb, Rosa Bescheid zu sagen, damit sie sich keine Sorgen macht.« Lily trat einen Schritt zurück und winkte kurz, bevor sie sich abwandte, damit John ihr nicht noch länger ins
Gesicht sehen konnte. Sie wusste selbst, dass ihr Gesicht schmaler geworden war und ihre Wangenknochen vorstanden, aber keineswegs so vorteilhaft wie bei einem Model. Die Alpträume hatten dunkle Ringe unter ihren Augen und hängende Schultern hinterlassen. Einen allzu tollen Anblick hatte sie mit ihren viel zu großen Augen und ihrem Hinken ohnehin nie geboten, und sie war auch nie so dünn gewesen, wie es Mode war. Ihr Körper hatte schon in jungen Jahren Kurven aufgewiesen und darauf beharrt, wahrhaft weiblich zu erscheinen, ganz gleich, wie viele Gymnastikübungen sie machte. Bisher hatte sie sich nie sonderlich für ihr Aussehen interessiert, aber jetzt …
Lily schloss die Augen. Ryland Miller. Warum hatte sie nicht ausnahmsweise einmal umwerfend attraktiv wirken können? Er war so unglaublich sexy. Klassische Schönheitsideale hatten nie einen Reiz auf sie ausgeübt. Miller sah nicht wirklich gut aus, dazu war er zu derb und besaß zu viel ungezügelte Kraft. Schon allein der Gedanke an ihn genügte, um ihren ganzen Körper glühen zu lassen. Und wie er sie angeschaut hatte … So hatte sie noch nie jemand angesehen. Voller Verlangen, als könnte er seine Gier nur mit Mühe im Zaum halten.
Sie zog sich die Stöckelschuhe von den Füßen und blickte zum Haus auf. Sie liebte San Francisco und das Leben in den Hügeln mit Blick auf die wunderbare Stadt, an der sie sich nie sattsehen würde. Sie bewohnten einen pittoresken Landsitz in europäischer Manier, mehrstöckig und weitläufig und mit Balkonen und Terrassen versehen, die seine Eleganz und seinen romantischen Zauber ausmachten. Das Haus hatte mehr Zimmer, als sie und ihr Vater jemals hätten bewohnen können, doch sie liebte es bis in den letzten Winkel. Die Mauern waren dick, das Innere geräumig
und großzügig. Ihre Zufluchtsstätte. Der Ort, an dem sie Schutz fand. Und das konnte sie weiß Gott gebrauchen.
Ein leichter Wind wehte, zerzauste ihr Haar und berührte zart ihr Gesicht. Nach einem Alptraum verflüchtigte sich der Eindruck von Gefahr im Allgemeinen innerhalb von wenigen Minuten, wenn sie spazieren ging, doch diesmal war er nicht zu vertreiben und hinterließ eine Unruhe, die allmählich beängstigend wurde. Die Nacht begann sich herabzusenken. Sie blickte zum Himmel auf und beobachtete die grauen Fetzen, die sich über ihrem Kopf zu düsteren Wolken verdichteten und vor den Mond zogen. Die Dämmerung war eine weiche Decke, die sie einhüllte. Die ersten Nebelschleier trieben über die terrassenförmig angelegten Rasenflächen, während sich Bänder aus weißer Spitze um Bäume und Sträucher wanden.
Lily drehte sich im Kreis und ließ ihre Blicke über den gepflegten Rasen, die Büsche und Bäume, die Brunnen und Zierbeete gleiten, die kunstvoll arrangiert waren, um das Auge zu erfreuen. Das großzügige Gelände, das sich vor der Haustür erstreckte, bot immer einen makellosen Anblick, nicht ein Blatt oder ein Grashalm, an dem man etwas aussetzen könnte, aber hinter dem Haus blieben die Wälder sich selbst überlassen. Ihr schien es immer, als herrschte in der Natur ein Gleichgewicht – Ruhe, Ausgewogenheit und Frieden. Ihre häusliche Umgebung gestattete ihr eine Freiheit, die sie nirgends sonst finden konnte.
Lily war schon immer anders gewesen. Sie besaß eine Gabe – ihr Vater sprach von einem Talent, sie selbst bezeichnete es als einen Fluch. Sie konnte Menschen berühren und ihre intimsten Gedanken lesen. Dinge, die nicht dafür bestimmt waren, an die Öffentlichkeit zu gelangen.
Dunkle Geheimnisse und verbotene Gelüste. Sie besaß aber auch noch andere Gaben. Das Haus, in dem sie lebte, war ihr einziger Zufluchtsort. Die Mauern waren dick genug, um sie vor den Attacken intensiver Gefühle zu schützen, die Tag und Nacht auf sie
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