Jägerin der Dunkelheit - Feehan, C: Jägerin der Dunkelheit - Shadow Game (Ghost Walkers # 1)
den Kellerräumen eingezwängt war. Das Labor selbst lag, vollständig verborgen, unter dem Kellergeschoss, und sie wusste bereits, dass in den Bauplänen jeder Hinweis auf die Lage des Labors fehlte. Das ganze Haus diente dem Schutz dieser Räumlichkeiten und nicht etwa ihrem Schutz.
Sie presste eine Hand auf ihren bebenden Mund. Sie hatte in diesem Raum gelebt. Sie wusste sogar, welches Bett ihres gewesen war. Lily wandte sich von dem Anblick ab und sah sich sorgfältig im Labor um. »Was hast du hier getan?« Sie sprach die Frage laut aus, doch sie fürchtete sich vor der Antwort, fürchtete sich vor dem Wissen, das in ihrem Verstand bereits aufzukeimen begann.
Dieser Schlafsaal mit den Kinderbetten machte sie ganz krank. Sie fühlte sich elend, und ihr Kopf surrte schlimmer denn je, ein Schwarm zorniger Bienen, die stachen, sie verletzten und ihr solche Schmerzen zufügten, dass sie sich in dem Bemühen, das grässliche Pochen abzuschwächen, beide Hände gegen die Schläfen presste. »Das sind doch nur Erinnerungen«, flüsterte sie, um sich selbst Mut zu machen. Sie musste sich ihrer eigenen Vergangenheit stellen. Ihr blieb gar nichts anderes übrig.
Widerstrebend ging Lily auf den Schreibtisch ihres Vaters zu und schaltete den Laptop an, der, millimetergenau ausgerichtet, mitten auf der Tischplatte stand. Während das Notebook hochfuhr, sah sie ihren Namen auf seinem Tagesplaner. Darunter lag ein langer handschriftlicher Brief, der hastig hingekritzelt worden war. Er war in einem der seltsamen Codes ihres Vaters abgefasst, aber diesmal
war es ein Code, mit dem sie vertraut war. Sie kannte ihn schon seit ihrer frühen Kindheit.
Sie nahm den Brief in die Hand, und ihre Finger strichen glättend über das Papier. Sie las seine Worte laut, weil sie ihn gern wieder zum Leben erweckt hätte. »Meine heiß geliebte Tochter, ich weiß, dass ich von den Irrtümern in meiner Vergangenheit eingeholt werde. Ich hätte schon längst etwas unternehmen sollen. Ich hätte dir die Wahrheit sagen sollen, aber ich hatte Angst davor, zu sehen, wie all die Liebe, die in deinen Augen leuchtete, wenn du mich ansahst, für immer erlischt.«
Es folgten etliche Kleckse, Stellen, die überschrieben worden waren, weil ihm die Worte, die er gewählt hatte, nicht gefielen. »Deine Kindheit ist vollständig dokumentiert. Denk bitte daran, dass du eine ganz außergewöhnliche Frau bist und schon als Kind ganz außergewöhnlich warst. Verzeih mir, dass ich nicht in der Lage war, eine Möglichkeit zu finden, es dir von Angesicht zu Angesicht zu sagen. Ich habe den Mut nicht aufgebracht.«
Jetzt war wieder etwas ausgestrichen, an einer Stelle sogar so, dass das Papier zerrissen war. »Du bist in jedem erdenklichen Sinne des Wortes meine Tochter. Aber im biologischen Sinne bist du es nicht.«
Lily las den Satz immer wieder. Im biologischen Sinne bist du es nicht. Sie setzte sich langsam auf den Stuhl und starrte dabei immer noch die Worte an. Ihr Vater hatte ihr zahllose Male erzählt, dass ihre Mutter sie geboren hatte und wenige Stunden später gestorben war. »Ich war nie verheiratet, und ich habe deine Mutter nie gekannt. Ich habe dich auf einem anderen Kontinent in einem Waisenhaus gefunden. Es existierten keine Unterlagen über deine leiblichen Eltern, nur über deine außergewöhnlichen
Fähigkeiten. Lily, ich liebe dich von ganzem Herzen. Du wirst immer meine Tochter sein. Die Adoption ist vollkommen legal, und du erbst alles. Cyrus Bishop hat sämtliche Unterlagen.«
Cyrus Bishop war einer von Peter Whitneys Anwälten, der, dem er das größte Vertrauen entgegengebracht und den er mit all seinen persönlichen Angelegenheiten betraut hatte. Lily ließ sich gegen die Rückenlehne des Stuhls sinken. »Das ist aber noch nicht das Schlimmste, Dad, stimmt’s? Du hättest mir problemlos sagen können, dass ich adoptiert worden bin, statt eine so verzwickte Geschichte zu erfinden.« Sie atmete langsam aus und warf einen Blick auf den langen Raum zu ihrer Linken. Auf den Schlafsaal. Mit den vielen kleinen Bettchen.
Sie erinnerte sich an Stimmen. Junge Stimmen. Die sangen. Lachten. Weinten. Sie erinnerte sich vor allem an weinende Stimmen.
»Ich habe dir erzählt, du hättest keine Großeltern. Das war nicht gelogen. Meine Familie ist tot. Es waren leblose Menschen, Lily, bar jeglichen Gefühls. Beide Seiten besaßen Geld und Verstand, aber sie wussten nicht, wie man einen anderen Menschen liebt. Als Kind habe ich meine Eltern so gut
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