Jägerin der Dunkelheit - Feehan, C: Jägerin der Dunkelheit - Shadow Game (Ghost Walkers # 1)
wie gar nicht zu sehen bekommen, nur dann, wenn sie mich dafür ausschelten wollten, dass ich mich nicht so gut gemacht hatte, wie ich mich ihrer Meinung nach hätte machen sollen. Das ist die einzige Entschuldigung, die ich vorbringen kann. Niemand hat mir beigebracht, wie man einen Menschen liebt, bis du in mein Leben getreten bist. Ich weiß noch nicht einmal, wann oder wie es begonnen hat, nur dass ich mich darauf gefreut habe, morgens aufzuwachen und dich zu sehen. Meine Eltern und Großeltern haben mir immense
Geldsummen hinterlassen, die für niemanden bekömmlich wären, und ich habe auch ihren brillanten Verstand geerbt, aber sie haben mir keine Liebe vermacht. Dieses Vermächtnis habe ich dir zu verdanken.«
Lily drehte die Seite um und las auf der Rückseite weiter. »Ich hatte eine Idee. Es war eine gute Idee, Lily. Ich war sicher, wenn ich Menschen mit einer angeborenen Veranlagung zu übersinnlichen Gaben fände, könnte ich diese Fähigkeiten steigern und sie fördern, damit sie sich frei entfalten können. Du wirst all meine Notizen auf dem Laptop finden. Die Ergebnisse sind auf den Videos und den Disketten festgehalten, die ich zusammen mit meinen detaillierten Beobachtungen aufgenommen und erstellt habe.«
Lily schloss die Augen gegen die Tränen, die plötzlich heftig hinter ihren Lidern brannten. Sie wusste, was der Rest des Briefes ihr enthüllen würde, und sie wollte nicht damit konfrontiert werden.
Lily? Diesmal war die Stimme schwach und schien aus weiter Ferne zu kommen. Es kam ihr so vor, als sei Ryland sehr, sehr müde. Was ist los mit dir?
Sie wollte nicht, dass er es erfuhr. Sie wollte nicht, dass irgendjemand etwas davon erfuhr. Ihre Lunge brannte so sehr, dass Lily sich zwingen musste einzuatmen. Sie wusste nicht, ob sie sich selbst oder ihren Vater schützte, nur, dass sie in diesem Augenblick die Wahrheit nicht enthüllen konnte. Nichts. Mach dir keine Sorgen. Ich arbeite mich nur durch strohtrockene Notizen vor.
Sie spürte ein winziges Zögern, fast so, als glaubte er ihr nicht, doch dann konnte sie seine Gegenwart nicht mehr wahrnehmen.
Lily wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Brief zu.
»Ich habe zwölf Mädchen von anderen Kontinenten mitgebracht. Ich hatte Länder der Dritten Welt gewählt, Orte, an denen Menschen ihre Kinder loswerden wollen. Die Mädchen habe ich in Waisenhäusern gefunden, wo keiner sie haben wollte und wo die meisten von ihnen gestorben wären, wenn ihnen nicht noch Schlimmeres widerfahren wäre. Alle waren jünger als drei Jahre. Mädchen habe ich deshalb ausgesucht, weil es viel mehr unerwünschte Mädchen gab und die Auswahl dementsprechend größer war. In diesen Ländern haben Eltern selten ihre Söhne ausgesetzt. Ich bin bei der Suche nach ganz bestimmten Kriterien vorgegangen, die du, gemeinsam mit den anderen Mädchen, erfüllt hast. Ich habe euch alle hierher gebracht und mit euch daran gearbeitet, eure Fähigkeiten zu steigern. Ich habe ausgezeichnet für euch alle gesorgt. Für jede von euch hatte ich ausgebildete Pflegerinnen. Und ich gebe zu, dass ich mir eingeredet habe, ich hätte euch allen ein weitaus besseres Leben beschert als jenes, welches ihr in den Waisenhäusern zu erwarten gehabt hättet.«
Lily warf den Brief hin und lief auf und ab, während Adrenalin durch ihren Körper gepumpt wurde. »Ich hoffe, ich habe dich richtig verstanden, Dad. Ich bin ein unerwünschtes Waisenkind aus einem Land der Dritten Welt, und du hast mich gemeinsam mit elf anderen glücklichen Auserwählten in deine Heimat mitgenommen, um Experimente mit uns durchzuführen. Wir hatten Kindermädchen und wahrscheinlich auch Spielsachen, und deshalb war nichts dagegen einzuwenden.« Sie war aufgebracht. Außer sich vor Wut! Und sie hätte gern geweint. Stattdessen setzte sie sich wieder hinter den Schreibtisch ihres Vaters.
Wie war es ihm möglich gewesen, an Kindern, die noch keine drei Jahre alt waren, Spuren von außergewöhnlich
starken übersinnlichen Veranlagungen zu entdecken? Wonach hatte er gesucht? Lily schämte sich dafür, dass der Wunsch ihres Verstandes, eine Antwort auf diese Frage zu finden, fast so stark war wie ihre Empörung über das, was ihr Vater getan hatte.
»Anfangs ging alles gut, aber mit der Zeit habe ich festgestellt, dass keine von euch Lärm ertragen konnte und dass ihr die meisten Pflegerinnen nicht in eure Nähe lassen wolltet. Ich habe erkannt, dass ihr alle zu viele Informationen aufgenommen habt und dass es keine
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