Jägerin der Nacht 02 - Day Hunter
angesprungen hätte. Sein Atem ging stoßweise und füllte die Stille der Kirche. Ich konnte mühelos sein panisches Herzklopfen ausmachen.
„Sagt wer? Deine religiösen Führer oben in ihren Elfenbeintürmen? Ich weiß nicht, ob es wirklich einen Himmel oder eine Hölle gibt, aber ich glaube, dass die Entscheidungen, die wir treffen, dafür sorgen, an welchem Ort wir enden." „Und du hast dich entschieden, eine Vampirin zu werden", gab er zurück. „Im Laufe der letzten Tage habe ich mich außerdem entschieden, unter Gefährdung meiner eigenen Sicherheit mehr Menschen zu retten, als ich zählen möchte." Ich machte den Mittelgang entlang ein paar Schritte auf ihn zu und unterdrückte gerade noch den Impuls, ihm mit einem Feuerball auf seine hartherzigen Bemerkungen zu antworten. „Ich bin kein Unschuldslamm, aber ich bin auch nicht der Inbegriff des Bösen, als den du mich hinstellen willst. Du willst mich töten, weil du mich für böse hältst. Schön. Aber pass auf, dass es auch wegen meiner Taten ist und nicht wegen dem, was ich bin."
„Tust du das alles deshalb?" Sein ganzes Auftreten war mit einem Schlag verändert. Die Anspannung, die seine Schultermuskulatur verkrampft hatte, löste sich, und die Fäuste öffneten sich, sodass die Finger entspannt am Körper herabhingen. „Weil du dir Erlösung verdienen willst?", fragte er, und die Schroffheit wich aus seiner Stimme. „Scheiß auf den Himmel!", stieß ich hervor und ballte die Hände so fest zu Fäusten, dass meine Knöchel schmerzten. „Ich mache das alles, weil es das Richtige ist. Wenn ich es nicht tue, wird meine Rasse sterben. Wenn ich es nicht tue, wird alles Schöne in dieser Welt sterben."
Wieder stürmte ich den Mittelgang hinunter und hielt vor den beiden flachen Stufen, wo ich mich zur Ruhe zwang. Ich begriff einfach nicht, warum das für mich immer noch ein Reizthema war. Seit sechshundert Jahren hatte ich Vorstellungen von Gott, Himmel, Hölle und dem Teufel in meinem Kopf gewälzt. Ich hatte mir Theorien darüber zurechtgelegt, warum meine Rasse existierte und wo unser Platz in der Ordnung der Dinge sein mochte. Manchmal hatten sich meine Theorien als falsch erwiesen, und ich hatte sie durch neue ersetzt. Ich hatte nicht viele Antworten, aber mein Denken war für viele Möglichkeiten offen.
Als ich endlich etwas sagte, war ich selbst erstaunt, wie müde meine Stimme klang. Als wären die langen Jahrhunderte in einem einzigen Klang verdichtet. „Seit mehr als tausend Jahren wandelst du nun über diese Erde. Wie kannst du dich noch immer an eine Vorstellung klammern, die nur Schwarz oder Weiß zulässt?" Ich drehte mich zu ihm um. Er stand noch immer vorne am Mittelgang, so als habe er Angst, diesen Ort zu betreten. „Gut und Böse sind nicht schwarz und weiß. Mensch bedeutet nicht automatisch gut, und Vampir heißt nicht gleich böse. Du hast dein Leben damit zugebracht, meine Rasse abzuschlachten. Hast du nie auch nur eine halbe Sekunde innegehalten und dich gefragt, ob wir wirklich das sind, wozu du uns machen willst?"
„Einmal." Seine Stimme war kaum mehr als ein Sommerwind in einem Ahorn, sanft und beruhigend. „Wann?" Er antwortete nicht, aber ich wusste es in dem Moment, als ich die Frage stellte. Es war in der Nacht gewesen, als wir uns das erste Mal getroffen hatten. Als wir in jener Nacht kämpften, hatte er gezögert. Ich hatte geglaubt, es sei wegen Nerian und der Naturi gewesen, aber tief in seinem Inneren hatte ihn noch etwas anderes beschäftigt. „Und wie hast du dich entschieden?" „Darauf habe ich keine Antwort. Ich weiß es nicht! Irgendwie bringst du alles durcheinander. Du lässt mich an allen Antworten zweifeln, die ich zu haben glaubte", tobte er und kam wütend einen Schritt näher. Seine Kräfte fluteten mir entgegen und trafen mich mit solcher Wucht in die Brust, dass ich mein Gleichgewicht nur mit einem Schritt rückwärts bewahren konnte.
„Es ist nichts falsch daran, Fragen zu stellen", sagte ich mit einem zaghaften Lächeln. Die Wut und die Verzweiflung, die ich vorhin gespürt hatte, waren verschwunden und hatten nur ein leichtes Muskelzittern hinterlassen. „Aber diese Fragen zerstören die Hoffnung", sagte er. Ich konnte spüren, wie die Wut in ihm verebbte und durch eine grundstürzende Verzweiflung ersetzt wurde, die uns beide zu erdrücken drohte. In diesem einen Moment sah er ratlos aus, und das war meine Schuld.
Bevor er mich traf, hatte er ein Ziel und eine Richtung gehabt, ein
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