Jagablut
schließlich
kein Hotel. Hier fällt ein Fremder auf.«
Zu dem Schluss war ich auch schon gekommen. Aber je mehr ich mit den
Menschen im Jagawirt vertraut wurde, umso weniger konnte ich mir vorstellen,
dass einer davon mir nach dem Leben trachtete. Und hatte Kaml mich nicht
gerettet?
»Aber Kaml hat mich doch gefunden – nach dem ersten Überfall.«
»Hat er nicht.« Viktor schüttelte den Kopf. »Der hat gedacht, du
schläfst, und wollte gerade mit seinem Nachschlüssel ins Zimmer, als du so dumm
warst, einfach die Tür aufzureißen. Schorsch blieb nichts weiter übrig, als dir
eins mit der Faust auf den Kopf zu geben. Sein Pech war nur, dass du so laut
geschrien hast.« Er bückte sich, hob seine Daunenjacke auf und legte sie über
die Armlehne des Sessels. »Wahrscheinlich hätte er dich sonst schon in jener
Nacht umgebracht.« Ich war sprachlos. »Du hast mit deinem Geschrei das ganze
Haus geweckt, weißt du? Da hat sich Schorsch schnell hingekniet und deinen
Retter gespielt.«
Ich sah Kamls besorgtes Gesicht wieder über mir, hörte seine bohrenden
Fragen, ob ich den Täter nicht doch gesehen hatte. Mir war aufgefallen, dass er
statt seiner üblichen Holzpantinen nur dicke Skisocken getragen hatte. Aber ich
hatte nicht den Schluss daraus gezogen, dass er sich damit lautlos durchs Haus
bewegen konnte. Natürlich hatte er darauf bestanden, auch noch die Polizei zu
rufen. Das perfekte Ablenkungsmanöver. Dass ich mich an nichts erinnern konnte,
hatte mir wohl zunächst das Leben gerettet.
»Was wollte er denn überhaupt in meinem Zimmer?«
Viktor zuckte die Schultern. »Schorsch hat bei der Polizei ausgesagt, er
hätte einen Schlüssel gesucht. Den zu dem Bauernkasten da drüben.« Er deutete
mit dem Kinn zum Vorraum. »Anscheinend hat er sich schon einmal mit seinem
Nachschlüssel Zutritt zu deinem Zimmer verschafft, während du in der Praxis
warst. Aber er hat den Schlüssel nirgends finden können.«
Natürlich nicht. Denn ich hatte den alten Schlüssel aus Vergesslichkeit
die ganze Zeit in meiner Jackentasche mit mir herumgetragen. »Sag mal, woher
weißt du das eigentlich alles?«
»Ich?« Er sah mich erstaunt an. »Na, vom Grabner Walter natürlich, von
wem sonst? Vom Postenkommandanten. Der ist doch mein Onkel, wusstest du das
nicht?«
»Nein, das wusste ich nicht.« So viel zum Amtsgeheimnis in Alpbach. Ich
beschloss, diesen Punkt stillschweigend zu übergehen. »Und … und beim
zweiten Überfall auf mich?«
»Auch Schorsch, logisch. Da hat er im Badezimmer auf dich gewartet. Er
hat gedacht, dass du den Schlüssel bei dir hast.«
Kaml hatte mein Zimmer durchsucht, aber weder Geld noch Wertsachen
mitgenommen. »Ich hatte gleich das Gefühl, dass dieser Einbruch nur vorgetäuscht
war.«
»Schorsch musste von seiner eigentlichen Suche ablenken.«
»Und … hat er gefunden, was er suchte?«
Viktor schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Ja, was war’s dann?« Kaml hatte versucht, mich zu erdrosseln, gerade als
ich die Jagdwaffe aus dem Versteck gezogen hatte. »Etwa das Gewehr?«
»Das Gewehr ist nur für die Polizei interessant.« Viktor räusperte sich.
»Schorsch hat sein Geständnis gesucht.«
»Was denn für ein Geständnis?«, fragte ich. »Hat Kaml etwa Vinzenz
Steiner ermordet? Das glaube ich nicht.« Kamls Entsetzen beim Anblick der
Leiche und sein Zusammenbruch waren echt gewesen. Geradezu hysterisch hatte er
in den folgenden Wochen dafür gesorgt, dass im Gasthof nachts alle Türen und
Fenster verschlossen waren. Kaml hatte Angst gehabt. Aber vor wem? Es musste
noch jemanden geben, der die Menschen im Jagawirt bedrohte. Mir wurde kalt.
»Kaml hat Steiner nicht umgebracht.«
Viktor runzelte die Stirn. »Das behauptet er auch, ja. Zumindest diesen
Mord streitet er entschieden ab.«
»Zumindest diesen Mord? Was soll das denn
heißen? Welchen Mord streitet er denn nicht ab?«
»Den an Simon Munz.«
»Was?«
Der Wind, der den Schnee am Fenster vorbeiwirbelte, war zum Sturm
geworden und rüttelte an den Holzläden.
Viktor nickte. »Steiner, Munz und der gute Schorsch waren doch die
Wilderer auf der Geieralm. Der Raudaschl Sepp, der Jäger, hat damals im Sommer
einen Freund der drei angeschossen. Daraufhin ist er bedroht worden. Irgendwer
hat ihm einen Zettel geschickt, auf dem gestanden ist: ›Für dich ist die Kugel
schon gegossen‹.« Er verschränkte die Arme hinter dem Kopf und grub sich tiefer
in den Ohrensessel. »Eigentlich Kinderkram. Aber wie der Raudaschl dann
wirklich
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