Jagd auf Roter Oktober
vermutlich längst mit etwas anderem befasst und amüsierten sich über Jack Ryan, der eine Vergnügungsfahrt auf Regierungskosten genoss.
Von einer Vergnügungsfahrt war nicht zu reden. Jack hatte zu seinem Leidwesen wieder entdeckt, wie sehr er zur Seekrankheit neigte. Die Invincible wartete vor Massachusetts auf die russischen Überwasserverbände und machte entschlossen Jagd auf rote U-Boote in der Umgebung. Sie fuhr weite Kreise auf einem Meer, das sich nicht beruhigen wollte. Jeder hatte alle Hände voll zu tun – außer ihm. Die Piloten starteten zweimal am Tag oder öfter, um mit landgestützten Maschinen der Air Force und Navy zu üben. Die Schiffe exerzierten Überwassertaktiken. Beim Frühstück hatte Admiral White angemerkt, das Ganze entwickele sich zu einer netten kleinen Verlängerung von FLINKER DELPHIN. Ryan war nur ungern überflüssig. Alle waren natürlich höflich zu ihm – mehr noch, die Gastfreundschaft war fast überwältigend. Er hatte Zugang zum Befehlszentrum, und wenn die Briten U-Boote jagten, bekam er alles so genau erklärt, dass er tatsächlich die Hälfte verstand.
Im Augenblick saß er allein in Whites Kajüte, die inzwischen zu seinem Heim an Bord geworden war. Ritter hatte ihm fürsorglich eine CIA-Studie in die Tasche gelegt. Das dreihundert Seiten lange Dokument mit dem Titel ›Verlorene Söhne: Ein psychologisches Profil des Ostblock-Defektors‹ war von einer Arbeitsgruppe von Psychologen und Psychiatern verfasst worden, die für den CIA und andere Nachrichtendienste arbeiteten und mithalfen, Überläufer in die amerikanische Gesellschaft zu integrieren – und, da war er sicher, für den CIA potentielle Deserteure aufspürten.
Ryan fand die Lektüre recht interessant. Er hatte noch nie darüber nachgedacht, was einen Überläufer motiviert, und war einfach von der Annahme ausgegangen, dass sich hinter dem Eisernen Vorhang genug abspielt, was einen vernünftigen Menschen zur Flucht in den Westen treiben kann. So einfach aber war das nicht, wie er beim Lesen erkannte. Jeder, der rüberkam, war ein Fall für sich. Einer mochte gegen das kommunistische Unrechtssystem aufbegehren und sich nach Rede- und Religionsfreiheit und freier Selbstentfaltung sehnen, aber ein anderer wollte vielleicht nur schlicht reich werden; da man ihm eingetrichtert hatte, wie raffgierig die Kapitalisten die Massen ausbeuten, war er zu dem Schluss gekommen, dass das Ausbeuterdasein seine Vorzüge hatte. Ryan fand das interessant, aber zynisch.
Ein anderer Typ Überläufer war der Heuchler, der als Desinformant beim CIA eingeschmuggelt wurde. Auf solche Charaktere war allerdings nie Verlass, denn sie konnten sich letztendlich zu echten Überläufern mausern oder umgedreht werden. Amerika war für jemanden, der an das graue Leben in der Sowjetunion gewöhnt war, eine verführerische Alternative. Die meisten Desinformanten aber waren gefährliche Feinde. Aus diesem Grunde vertraute man einem Überläufer nie. Wer einmal das Land gewechselt hatte, konnte das wieder tun. Selbst Idealisten plagten Zweifel, Gewissensbisse, weil sie ihr Vaterland im Stich gelassen hatten. In einer Fußnote merkte ein Arzt an, die schwerste Strafe sei für Alexander Solschenizyn das Exil gewesen.
Der Rest des Dokumentes befasste sich mit dem Problem der sozialen Integration. Nicht wenige sowjetische Überläufer hatten nach einigen Jahren Selbstmord begangen. Manchen war es einfach nicht gelungen, mit der Freiheit fertig zu werden, ähnlich Langzeithäftlingen, die sich nach der Entlassung nicht in der Gesellschaft zurechtfinden und eine Straftat begehen, um wieder in den reglementierten Anstaltsalltag zurückkehren zu können. Der CIA hatte im Lauf der Jahre eine Prozedur zur Lösung dieses Problems entwickelt, und eine Kurve im Anhang zeigte, dass die Zahl der schwer Unangepassten drastisch gefallen war.
Nachdem Ryan das Dokument ein zweites Mal durchgelesen hatte, kam er zu dem Schluss, dass jeder Überläufer als Individuum behandelt werden musste – von einem einfühlsamen Führungsoffizier, der Zeit und Neigung hatte, sich ordentlich um ihn zu kümmern. Ryan hoffte, auf diesem Gebiet nicht zu versagen.
Marinelazarett Norfolk
Tait fühlte sich wohler. Dr. Jameson hatte ihn abgelöst und ihm Gelegenheit gegeben, sich im Ärztezimmer für fünf Stunden auf die Couch zu legen. Zu mehr Schlaf an einem Stück schien es bei ihm nie zu reichen, aber er war danach so ausgeruht, dass er dem Pflegepersonal fast
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