Jagd auf Roter Oktober
winkte Ryan zu sich und gab ihm eine Akte.
Ryan schlug die Akte auf. Er sah die Fotokopie eines auf einer mechanischen Schreibmaschine abgefassten Berichtes, in dem so oft übertippt worden war, dass er nicht von einer richtigen Sekretärin geschrieben worden sein konnte. Wenn ihn also noch nicht einmal Nancy Cummings und die anderen Elitedamen zu sehen bekommen hatten … Ryan sah auf.
»Schon gut, Jack«, meinte Greer. »Sie haben ab sofort WILLOW, den Status höchster Geheimhaltung.«
Ryan lehnte sich zurück und begann, das Dokument langsam und sorgfältig zu lesen.
Der Codename des Agenten lautete CARDINAL, und der Mann war der höchstplatzierte »Maulwurf«, den der CIA je gehabt hatte. Rekrutiert worden war er vor zwanzig Jahren von Oleg Penkowski, der damals Oberst bei der GRU gewesen war, dem Nachrichtendienst des sowjetischen Militärs, einem größeren und aktiveren Gegenstück zu Amerikas CIA. Dank seiner Stellung hatte er Zugang zu täglichen Informationen über alle Aspekte der sowjetischen Streitkräfte, von der Befehlsstruktur der Roten Armee bis zum Bereitschaftsgrad der Interkontinentalraketen. Was er über seinen britischen Kontaktmann Greville Wynne aus dem Land schmuggelte, war von so hohem Wert, dass der Westen sich darauf zu verlassen begann – zu sehr, wie sich bald erweisen sollte. Penkowski wurde 1962 während der Kubakrise enttarnt. Es waren seine Daten gewesen, die, unter starkem Zeitdruck angefordert und abgeliefert, Präsident Kennedy verrieten, dass die sowjetischen strategischen Systeme nicht kriegsbereit waren. Diese Information versetzte Kennedy in die Lage, Chruschtschow in eine Ecke zu drängen, aus der es keinen einfachen Ausweg gab. Das berühmte, Kennedys unerschütterlichen Nerven zugeschriebene Augenzwinkern konnte sich der Präsident nur leisten, weil er seinem Gegenspieler in die Karten geguckt hatte. Aber Penkowskis Reaktion auf die dringende Anfrage aus Washington war zu übereilt und wurde ihm zum Verhängnis – man hatte ihn ohnehin schon im Verdacht gehabt –, und er musste für den Verrat mit dem Leben bezahlen. CARDINAL hatte festgestellt, dass Penkowski überwacht wurde, und warnte ihn, aber zu spät. Als dem Obersten klar wurde, dass er nicht mehr aus der Sowjetunion herausgeholt werden konnte, forderte er selbst CARDINAL auf, ihn zu verraten. Dass sein eigener Tod die Karriere eines Agenten, den er persönlich rekrutiert hatte, fördern würde, war sozusagen die letzte Ironie eines Spions.
CARDINALS Position war notwendigerweise so geheim wie sein Name. Als Berater und Vertrauter eines Mitglieds des Politbüros agierte er oft beim sowjetischen Militär als dessen Vertreter und hatte so Zugang zu politischen und militärischen Informationen höchsten Ranges. Dies machte seine Nachrichten für den CIA außergewöhnlich wertvoll – und, paradoxerweise, höchst suspekt. Die wenigen CIA-Beamten, die von ihm wussten, mochten nicht glauben, dass er nicht irgendwann von einem der Tausenden von Gegenspionageexperten des KGB umgedreht worden war. Aus diesem Grunde wurde CARDINAL-codiertes Material mit Berichten anderer Spione und Quellen verglichen. Doch CARDINAL hatte viele kleine Fische unter den Agenten überlebt.
Den Decknamen CARDINAL kannten in Washington nur die drei leitenden Männer des CIA. Am Ersten jeden Monats wurde für seine Nachrichten ein neues Codewort ausgewählt, das nur die höchsten Beamten erfuhren. Diesen Monat lautete es WILLOW. Bevor CARDINAL-Material, wenn überhaupt, an Außenseiter weitergegeben wurde, wusch man es so sorgfältig, wie die Mafia ihre Einkünfte wusch, um seine Herkunft zu verschleiern. Es existierte auch eine Reihe von Sicherheitsmaßnahmen, die nur zum Schutz dieses Agenten dienten. CARDINAL-Material wurde nur von Hand weitergegeben, niemals über Funk oder Kabel. So wurde die Aufdeckung seiner Identität durch kryptographische Methoden vermieden. CARDINAL selbst war ein überaus vorsichtiger Mann – Penkowskis Schicksal war ihm eine Lehre gewesen. Seine Informationen erreichten nur über mehrere voneinander abgeschottete Zwischenstationen den Chef der CIA-Stelle in Moskau.
Als Ryan die Meldung durchgelesen hatte, sah er sich die zweite Seite noch einmal an und schüttelte langsam den Kopf. Dann klappte er die Akte zu und gab sie an Greer zurück.
»Mein Gott, Sir!«
»Jack, eigentlich brauche ich das nicht zu sagen, aber was Sie gerade gelesen haben, erfährt niemand ohne die Genehmigung des Direktors –
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