Jagdfieber
krachenden Pfeifen, weil sie unter der Last der Wahrheit zu ersticken drohte. Ihre Arme griffen nach vorn, als tanzende Blitze vor ihren Augen zuckten, es wurde hell, dann wieder dunkel, während die Geräusche der Straßen in immer weitere Ferne rückten. Alles drehte sich, verblasste, ehe sie die Dunkelheit komplett einholte und in ihre dunkle Umarmung einhüllte.
Kapitel 9
Paige war noch nie eine besondere Kämpfernatur gewesen. Nicht in ihrer Kindheit und schon gar nicht während ihrer ziemlich turbulenten Teenagerzeit. Doch jetzt, einige Tage nach der unglaublichen Auferstehung ihrer vermeintlich toten Mutter und der Enthüllung, dass darüber hinaus auch noch eine jüngere Schwester existierte, wollte sie wenigstens versuchen, sich dieser Situation wie eine Erwachsene zu stellen. Aber es war schwer. Nach der Party bei Madeline Livingston hatten sich die Ereignisse buchstäblich überschlagen. Allein die ganzen Berichte der Boulevardpresse, die die ungewöhnliche Familienzusammenführung bis ins kleinste Detail ausgeschlachtet hatte, waren zermürbend. Sie traute sich kaum noch, einen Fuß nach London zu setzen, weil dort unzählige Fotografen und Reporter lauerten, die alle ein Stückchen vom skandalträchtigen Kuchen abhaben wollten. Nachdenklich stützte sie ihr Kinn auf ihre aufeinandergelegten Arme, die am oberen Rand des Weidezauns einer alten Pferdekoppel ruhten, und beobachtete die Pferde beim Toben. Hier draußen konnte sie so richtig abschalten, die Streifzüge an diesen friedlichen Ort waren mittlerweile zu einem täglichen Ritual für sie geworden, obwohl sie sich sonst nicht so gerne im Freien aufhielt.
Auch heute hatte sie es wieder hinausgetrieben, obwohl man ihr vor dem Verlassen des Hauses mitgeteilt hatte, dass ein Gewitter angekündigt sei. Aber ein bisschen Wasser konnte sie nicht schrecken, außerdem kam sie so nicht in Versuchung, den ständig um sie herumscharwenzelnden und überbesorgten Ross im Gartenteich zu ertränken. Ein schwaches Grinsen hob ihre Mundwinkel, während sich die Sonne zwischen den Wolken hindurchschob und mit ihren herbstlichen Strahlen ihre Nasenspitze küsste. Kräuselnd zog sie die Nasenflügel zusammen und rieb mit der Hand darüber, um das Kitzeln loszuwerden. Sie wünschte sich, ihre Probleme würden sich ebenfalls so einfach wegwischen lassen. Jeder behandelte sie wie ein rohes Ei. Selbst Victor war ungewöhnlich friedfertig für seine Verhältnisse und bedachte sie andauernd mit abschätzenden Blicken, die nichts von seinen Gedanken preisgaben. Stattdessen behandelte er sie mit ausgesuchter Höflichkeit. Paige sehnte sich nach dem unterkühlten Mistkerl von früher zurück und konnte mit dieser blutleeren Version eines wohlerzogenen Gutsbesitzers so gar nichts anfangen. Ansonsten ging er ihr aus dem Weg, was sie zusätzlich belastete. Wenigstens hatte sie seinen Quickie mit Charlotte gut weggesteckt, und obwohl sie zuerst fest entschlossen gewesen war, ihn sich aus dem Kopf zu schlagen, hatte sich ihre Meinung nach reiflicher Überlegung wieder geändert. Sie konnte ihn weder vergessen noch aufgeben und dachte nicht im Traum daran, ihn kampflos dieser Schlange zu überlassen. Sie war entschlossen, um Victor zu kämpfen, sobald sie sich mental wieder dazu in der Lage fühlte. Victor war jedoch aktuell nicht ihr größtes Problem, sondern ihr Vater. Ein grimmiger Laut entfuhr ihr und mischte sich unter das Wiehern der Pferde. Ross raubte ihr derzeit den letzten Nerv, da er felsenfest davon überzeugt war, dass sie das Auftauchen ihrer Mutter seelisch nicht verkraften würde. Er tat so, als wäre sie nur einen Pulsschlag vom endgültigen Exodus entfernt, und schien förmlich auf ihren Zusammenbruch zu warten. Es war wirklich immer das Gleiche. Laufend wurde sie unterschätzt, als schwach eingestuft und katalogisiert wie ein Beweisstück für die Asservatenkammer.
Natürlich hatte sie an der Sache zu knabbern, das konnte sie nicht leugnen. Schließlich war sie auch nur ein Mensch, und wenn man ohne Vorwarnung damit konfrontiert wurde, dass die angeblich tote Mutter schon seit etlichen Jahren putzmunter auf einem anderen Kontinent lebte, war das nichts, was sich bagatellisieren ließ. Doch anstatt mit einer endlosen Litanei an Vorwürfen um sich zu werfen, wurde sie von einer scheuen Freude erfüllt, weil ihr unversehens das Wunder zuteilwurde, jene Frau kennenzulernen, die ihr und auch ihrer Schwester Chloe das Leben geschenkt hatte.
Dass Leanne sie
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