Jagdfieber
als Kleinkind im Stich gelassen hatte, spielte für Paige momentan nur eine untergeordnete Rolle. Mit dieser wenig sympathischen Tatsache würde sie sich zu einem späteren Zeitpunkt auseinandersetzen. Ihr Verstand eliminierte im Augenblick alle Gefühle wie Bitterkeit, Wut und Enttäuschung, damit sie weiter normal funktionieren konnte.
Nur konnte niemand ihre milde Haltung nachvollziehen. Keiner verstand, warum sie Leanne nicht die kalte Schulter zeigte. Nicht ihr Vater, nicht ihre Schwester Chloe und schon gar nicht Victor, der ganz offen seine Abneigung gegen Leanne zeigte und damit noch eine Schranke mehr zwischen ihnen aufbaute. Paige weigerte sich trotzdem strikt, sich dieser Mauer an Ablehnung anzuschließen, indem sie ihre Mutter vorschnell als gewissenlos und egoistisch abtat. Zu oft hatte sie am eigenen Leib erfahren, wie es war, wenn man in eine Schublade gesteckt und als böses Biest abgestempelt wurde. Besaß nicht jeder Mensch einen guten Kern, auch wenn es manchmal gar nicht danach aussah? Paige wollte sich die Mühe machen und diesen Kern suchen und war auch bereit, das Risiko einer Enttäuschung in Kauf zu nehmen. Schließlich hatte sie ohnehin nichts mehr zu verlieren, außer ein paar albernen Träumen.
Unwillkürlich musste sie an ihre Schwester denken, die sich mit den ganzen Enthüllungen und Lügen unheimlich schwertat. Zunächst hatte Chloe den Kontakt zu ihr und Ross strikt verweigert, weil sie von all diesen Dingen förmlich überrollt worden war. Sie war enttäuscht von Ross, der sich in ihr Leben geschlichen und sich als guter Freund hervorgetan hatte, ohne ihr seine wahre Identität zu verraten. Paige hatte Chloes kompletten Rückzug widerwillig akzeptiert, bis sie es nicht mehr ausgehalten und zu ihr gefahren war. Eine gute Entscheidung! Bei einem Kaffee und einem sehr ehrlichen Gespräch war das Eis schnell gebrochen. Chloe war ein ganz unglaublicher Mensch. Nicht nur hübsch und clever, sondern auch jemand, mit dem man sich stundenlang unterhalten konnte, ohne sich dabei in irgendeiner Weise verstellen zu müssen. Zudem fühlte sie unendliche Dankbarkeit für die Chance, ihre jüngere Schwester in Zukunft öfter sehen zu dürfen. Es gab so viele Fragen, so viel nachzuholen. In beiderseitigem Einverständnis hatten sie beschlossen, in Zukunft jede Gelegenheit zu nutzen, um die Wissenslücken zu füllen.
Ihre Gedanken wanderten wieder zurück zu Victor, wie so oft. Chloe hatte sie direkt gefragt, ob sie verliebt in ihn sei, und sie war ihr eine Antwort schuldig geblieben, weil sie es nicht wusste. Paige war sich nicht mal sicher, ob sie Liebe und Begehren unterscheiden konnte, und war verunsichert wie noch nie in ihrem Leben. Sie empfand mehr für ihn als nur den Wunsch, ihn mit Haut und Haaren besitzen zu wollen, doch darüber hinaus …
Seufzend verschob sie die Wahrheitsfindung. Sie würde ihre Antwort schon bekommen. Vielleicht nicht heute, wahrscheinlich auch nicht morgen, aber sicherlich in naher Zukunft – und das hoffentlich in mehr als nur einer Hinsicht.
Victor ritt einen erdigen Pfad entlang und lenkte seine Stute auf eine Steigung zu, um vom obersten Punkt einen besseren Überblick zu bekommen. Hinter dem Hügel lag die Pferdekoppel. Er wollte die Gelegenheit nutzen, um nach den Pferden zu sehen, aber eigentlich war er auf der Suche nach Paige. Dieses verrückte Weib war trotz aller Warnungen zu einem Spaziergang aufgebrochen und würde mitten in ein heftiges Unwetter geraten, sollte er sie nicht rechtzeitig finden. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr, wenn er die sich rasch verdichtende Wolkenfront in nordöstlicher Richtung betrachtete. Sie rückte immer näher, es war nur eine Frage der Zeit, bis die geballte Kraft der Elemente auf die Erde niedergehen würde.
Victor seufzte frustriert, weil er Wichtigeres zu tun hatte, als Kindermädchen zu spielen, doch Ross hatte ihn förmlich bekniet, Paige wohlbehalten zurückzubringen, bevor sie sich noch irgendwie verletzte. Schlussendlich hatte er sich breitschlagen lassen und Ross versichert, er würde seine Tochter sicher und unversehrt auf Seymour Manor abliefern. Er hoffte nur, dass ihm das gelang, ohne einen Streit vom Zaun zu brechen, da sie aktuell einiges zu verdauen hatte und er nicht skrupellos genug war, um jemanden zu treten, der ohnehin schon am Boden lag.
Erneut warf er einen sorgenvollen Blick auf die düsteren Wolkenformationen, die immer näher rückten. Auch der Wind nahm kontinuierlich zu. Die
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