Jagdopfer
zuerst suchen sollte. Mit der Taschenlampe leuchtete er durchs Zimmer und stellte fest, dass links ein Flur abging. Alle Türen standen offen - vermutlich ging das aufs Konto der Hausdurchsuchung des Sheriffs. Am Ende des Korridors konnte Joe gerade noch einen Bettpfosten im Schlafzimmer erkennen. Vom Flur gingen zwei Türen ab. Die eine führte in ein winziges Bad, die andere in eine Kammer, die offenbar als Lagerraum gedient hatte.
Als Joe den engen Korridor betrat, blieb er gleich mit dem Pistolenhalfter an einem aus der Wand stehenden Nagel hängen. Er trat einen Schritt zurück, schnallte den sperrigen Gürtel ab und legte ihn auf den Tisch. Die Taschenlampe behielt er.
Joe ging ins Badezimmer. An allen Wänden und selbst an der Decke hingen an rostigen Reißzwecken alte Fotos von Marilyn Monroe, die im Wasserdampf wellig geworden waren. Auf den Regalbrettern in der Ecke standen lauter braune Arzneifläschchen mit rezeptpflichtigen Medikamenten. Die meisten waren verstaubt und schon lange nicht mehr benutzt worden. Joe las die Etiketten und stellte fest, dass sehr viele Mittel im hiesigen Krankenhaus für Kriegsveteranen verschrieben worden waren. Die neuesten Medikamente kamen alle aus Barretts Apotheke in
Saddlestring. Thorazin und Prozac - diese Namen sagten Joe etwas, aber er wusste über beide Arzneien nur wenig.
Der kleine Lagerraum schien voller Kartons, Kleidung und Plunder. Im Lauf der Jahre war dort so vieles planlos übereinandergestapelt worden, dass man gar nicht richtig ins Zimmer reinkam, wenn man vorher nicht ein paar Kartons rausnahm. Joe leuchtete mit der Taschenlampe in einige davon, die in seiner Reichweite standen. Alle waren voller Fotoumschläge. Wie Sheriff Barnum gesagt hatte - das mussten Tausende sein.
Dann trat Joe in Lidgards Schlafzimmer, dessen Doppelbett fast den gesamten Boden einnahm. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich seitlings am Bett entlangzuarbeiten, um sich im Zimmer umzusehen. An der Wand steckten einige vergilbte Marilyn-Monroe-Poster, ein Foto des jungen Clyde Lidgard in Armee-Uniform und der Kalender einer Futtermittel- und Saatgetreidehandlung aus Saddlestring. Die Bettlaken waren nicht beige, wie Joe zuerst dachte - sie waren weiß, aber so verdreckt, dass sie beige erschienen. Im ganzen Raum stand ein muffiger Geruch.
Joe schob die Türen des Wandschranks auf. Er war gerammelt voll - Lidgard hatte erstaunlich viel zum Anziehen. Aber er schien seit Jahren nichts davon getragen zu haben. Die Schulterpartien der Hemden und Jacken auf der Garderobenstange waren ganz verstaubt. Im Regal darüber lagen gut zehn Schachteln kleinkalibrige Gewehrpatronen. Ihre Preisschilder reichten von acht Dollar fünfzig bis achtzehn Dollar - demnach war die Munition über einen Zeitraum von mindestens zwanzig Jahren gekauft worden. Joe fasste hoch und stellte fest, dass die älteren Schachteln leer waren. Aus irgendeinem
Grund hatte Lidgard sie behalten. All den Fotos, dem Plunder, den Pillenfläschchen und Patronenschachteln nach war er ein besessener Sammler gewesen. Joe stieg aufs Fußende des Bettes, um sicherzugehen, alles im Regal entdeckt zu haben. In der dicken Staubschicht befanden sich einige frische Fingerspuren. Joe nahm an, sie stammten von den anderen Ermittlern. Und er wusste noch immer nicht, wonach er eigentlich suchte.
Er schloss den Wandschrank und zog einen kleinen Notizblock aus der Hemdtasche.
»Lidgards Wohnwagen«, schrieb er. »Keine 9-mm-Patronen.«
Joe musste einige Male hin- und hergehen, um alle Kartons aus der Rumpelkammer zum Küchentisch zu schleppen, wo das Licht besser war. Anscheinend waren die Fotos völlig ungeordnet. Doch die oberen Umschläge enthielten im Allgemeinen neuere Aufnahmen als die, die weiter unten lagen.
Joe nahm die jüngeren Bilder Film für Film aus den Stecktaschen, betrachtete sie und achtete darauf, sie wieder in die richtigen Umschläge zu schieben. Die letzten Fotos waren in Barretts Apotheke zum Entwickeln gegeben worden. Dort hatte Lidgard sich auch seine rezeptpflichtigen Medikamente besorgt.
Sollte Joe gehofft haben, dass die Aufnahmen mehr enthüllen würden, als dass Lidgard ein lausiger, wenn auch besessener Fotograf war, dann war er schnell enttäuscht. Die Bilder waren in aller Regel von mieser Qualität, und die Motive waren banal, manchmal hirnverbrannt. Lidgard hatte seine Kamera offenbar überall dabeigehabt und aus dem Autofenster eine Menge Dinge aufgenommen, die nur er hätte erklären können.
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