Jagdopfer
draußen. Wer unterwegs war, hastete von Tür zu Tür und hielt dabei die Hände über den Kopf. Merkwürdig, dass dieses Wetter den ganzen Tag anhält, dachte Joe. In dieser Jahreszeit regnet es nur selten. Eigentlich regnet es überhaupt selten, punktum. Joe war aufgefallen, dass die Bewohner Wyomings bei Regen nicht wussten, was sie tun sollten - außer ins Trockene zu kommen, durchs Fenster zu schauen und zu warten, dass es aufhört. Dieselben Leute, die im Winter Schneeketten auf alle vier Räder zogen und durch Stürme fuhren, bei denen die Flocken waagerecht vor ihrer Windschutzscheibe vorbeisausten - diese Leute, die sich durch Schneewehen arbeiteten, nur um in der Stadt zu Mittag zu essen, hatten
einfach keine Ahnung, was sie bei Regen anfangen sollten. Ein paar Rancher zogen Plastikhüllen - manchmal Cowboy-Kondome genannt - über ihre Stetsons, doch kaum jemand besaß einen Regenschirm. Und noch weniger Menschen ließen sich mit aufgespanntem Schirm blicken, denn das erschiene ja großstädtisch und überkandidelt. Die einzigen Regenjacken, die Joe in dieser Gegend gesehen hatte, steckten sauber zusammengerollt hinten am Sattel - und dort blieben sie im Allgemeinen auch. Joe aber mochte Regen und wünschte, es gäbe ihn öfter.
Vern hatte Recht. Saddlestring lag im Sterben. Vor zehn Jahren waren die Kohlenbergwerke noch in Betrieb, genau wie die Pumpen des Ölfelds »Twelve Sleep«, inzwischen aber war beides stillgelegt. Nur ein paar Leute arbeiteten an der Renaturierung rund um die ehemalige Kohlengrube, und die eingemotteten Ölförderanlagen warteten vergeblich darauf, dass der Ölpreis stieg. Sogar in der Landwirtschaft gab es immer weniger Jobs, während reiche Leute aus anderen Bundesstaaten hier Ranches kauften, um Steuern abzuschreiben, und die Betriebe dann nicht selten auflösten. Seit zehn Jahren hatten die Fleischpreise nicht mehr so niedrig gelegen wie jetzt. Jedes vierte Schaufenster in der Hauptstraße war mit Brettern vernagelt. In den letzten fünf Jahren hatte die Einwohnerzahl der Stadt um dreißig Prozent abgenommen. Überall standen Häuser zum Verkauf, und zwar billig. Der einzige Radiosender von Saddlestring hatte angekündigt, zum nächsten Ersten sein Programm einzustellen. Die Arbeitslosigkeit war hoch und nahm weiter zu. Verns Pipeline würde nicht nur Gas, sondern endlich auch wieder Menschen und Dollars in diese Gegend pumpen.
Saddlestring war eine klassische Stadt des amerikanischen Westens, die aus der vielversprechenden Lage an der Eisenbahn hervorgegangen war. Aber die Hoffnungen hatten sich nie wirklich erfüllt. In den 1880ern hatte ein Bergbau-Magnat hier ein prächtiges Hotel bauen lassen, doch das war nun schon lange verfallen. Die Hauptstraße - sie hieß auch so - schlängelte sich von Norden nach Süden durch den Ort und brachte es dabei auf stattliche vier Ampelkreuzungen, aber nicht auf eine grüne Welle. Die Läden im Stadtzentrum - immerhin zwei Häuserblocks - besaßen nach außen hin noch immer etwas hochnäsig Viktorianisches. Schließlich waren sie einmal dazu bestimmt gewesen, Grundpfeiler einer vornehmen Großstadt zu sein. Doch nördlich und südlich davon sah die Hauptstraße aus wie jede andere Einkaufsmeile in den USA - gespickt mit Waffenläden und Sportgeschäften, Anglerbedarf und Kneipen. Und mit Restaurants, in denen es nur Steaks zu essen gab.
Joe kam ins Büro des Sheriffs und hängte Hut und Jacke an den Garderobenständer.
»Regnet’s immer noch?«, fragte Hilfssheriff McLanahan von seinem Schreibtisch hinterm Tresen. Joe bejahte und erkundigte sich, ob Sheriff Barnum zu sprechen sei. Wendy, die nicht nur Telefonistin, sondern auch Empfangschefin war, starrte Joe betont kühl und lange genug an, um ihm klarzumachen, dass sie ihn nach dem Telefongespräch vom Sonntag noch immer nicht mochte. Aber dann gab sie nach und rief Barnum über die Gegensprechanlage an - »Jagdaufseher Joe« sei da und wolle zu ihm.
Sheriff Bud Barnum saß hinter einem Schreibtisch, auf dem sich Berge von Akten und Post häuften. Er nippte an
einem großen weißen Plastikbecher, den er anscheinend nie absetzte. Obwohl sein Büro ziemlich geräumig war, lagen überall stapelweise Zeitschriften und Papiere herum, und Joe bekam bei dieser Unordnung beinahe Platzangst. Vor Barnums Schreibtisch stand ein brauner, vinylbezogener Stuhl. Joe legte ein paar ungeöffnete Briefe beiseite und setzte sich.
Barnum schlürfte laut, und Joe roch den starken Kaffee.
»Sind Sie
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