Jagdopfer
Die
meisten Fotos waren schief und fielen nach links ab. Bäume gab’s da, viele Bilder von Bäumen und Büschen. Joe sah genau hin, ob im Geäst irgendwas war, konnte aber nichts Bemerkenswertes entdecken. Da gab’s Landschaftsaufnahmen - Salbeigestrüpp, die Ausläufer der Berge und die Berge selbst, das Tal des Flusses. Immer mal wieder zeigte ein Foto einen Körperteil Lidgards. Auf einigen Aufnahmen waren seine Schuhe zu sehen - offenbar hatte er sich einfach hingestellt und die Kamera senkrecht auf den Boden gerichtet. Ein paar Bilder zeigten Lidgards unscharfes Gesicht - da hatte er den Fotoapparat auf Armeslänge von sich weggehalten und auf den Auslöser gedrückt. Joe musterte Clydes Miene nach irgendeinem Anhaltspunkt, doch er sah nur ein dunkles und verhärmtes, beinahe gepeinigtes und immer finster dreinschauendes Gesicht, das vom Blitz mal obszön ins Licht gezerrt wurde, mal in Überhelle verschwamm. Es gab ein unheimliches Foto von Lidgard im Badezimmerspiegel, bei dem der größte Teil seines Körpers bis zur Unkenntlichkeit überbelichtet war. Es gab Aufnahmen von den Berghütten, um die Lidgard sich kümmerte, und Fotos von Gebäuden im Zentrum von Saddlestring. Zwei Filme zeigten nur Schneewehen. Auf einem der Winterbilder konnte Joe ein Rudel Wapitis erkennen, die ganz im Hintergrund durch die Prärie zogen. Die Tiere waren so klein wie Fliegendreck. Und ab und zu gab es unscharfe Fotos von Lidgards verschrumpeltem Penis.
Joe grub in der Schachtel nach einer Handvoll Umschlägen aus früheren Jahren. Viele Aufnahmen stammten aus einem Krankenhaus für Kriegsveteranen und zeigten Schwestern, Ärzte, Inventar, Patienten, Fliesenböden und wieder Clyde Lidgards Penis.
Joe ging die Bilder durch, bis es so dunkel wurde, dass er kaum noch etwas erkennen konnte. Die neuesten Fotos waren im letzten Sommer in und um Saddlestring aufgenommen worden. Also lagen mindestens zwei Monate zwischen Clydes letzten Bildern und der Schießerei im Jagdlager. Das schrieb sich Joe ins Notizbuch. Er fragte sich, warum Lidgard wohl mit der sinnlosen Fotografiererei aufgehört hatte.
Als Joe die Kartons schließlich wieder in die Rumpelkammer brachte, wurde ihm klar, dass er sich den Kopf vergeblich zerbrochen hatte. Der Regen trommelte nicht mehr aufs Wohnwagendach. Nur ab und zu fielen ein paar schwere Tropfen. Joe hatte versucht, aus den Fotos etwas herauszulesen und in ihnen etwas zu finden, das einen Anhaltspunkt dafür liefern mochte, wer Clyde Lidgard war und was ihn ins Jagdlager verschlagen hatte. Aber er hatte nichts gefunden. Stattdessen war er reichlich bedrückt - die Fotos anzuschauen hatte etwas sehr Vertrauliches. Und sie hatten sich als vollkommen nutzlos erwiesen. Warum auch immer - Lidgard hatte diese Aufnahmen gemacht, entwickeln lassen und aufbewahrt. Vielleicht sah er in ihnen Dinge, die niemand sonst sehen konnte, dachte Joe. Oder er erblickte draußen Sachen, die zu fotografieren er sich genötigt fühlte - nur um auf den Abzügen zu entdecken, dass sie gar nicht vorhanden waren. Joe kam zu dem Schluss, über Clyde Lidgard nicht mehr zu wissen als vorher - wegen der Penisfotos aber doch mehr, als ihm lieb war.
Er holte tief Luft und öffnete den Kühlschrank. Ein beißender Gestank flutete ihm entgegen und brannte ihm in den Augen. Er blinzelte, während er mit der Taschenlampe das Innere ableuchtete - verfaulte Hamburger,
verdorbene Milch, verschimmelter, schwitzender Käse. Er klappte das Tiefkühlfach auf, und dort stank es sogar noch schlimmer, obwohl es fast leer war.
Joe stieß die Luft aus und trat die Wohnwagentür auf, um wieder atmen zu können. Dann ging er nochmal zum Kühlschrank. Der Boden des Tiefkühlfachs war voll von geronnenem Blut und eingetrockneten Flüssigkeiten. Im Blut und an den Seiten klebten braune Haarbüschel. Bis vor kurzem hatte Clyde Lidgard das Fach mit Tierteilen vollgestopft. Und jetzt waren sie verschwunden.
Die Hände auf die Knie gestützt, stand Joe vor dem Wohnwagen, atmete tief durch und kämpfte mit dem Brechreiz. Ihm dröhnte der Kopf, und die Augen brannten noch immer. Endlich wieder kühle Frischluft. Dankbar sog Joe den starken, süßen Duft von nassem Salbei ein. Die Abenddämmerung stand rot verschmiert über den Gebirgsausläufern.
Joe richtete sich auf und fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen. Dann kam von hinten ein satter Knall. Joe schoss herum und sah noch, wie eine Feuerwalze aus dem Wohnwagen rollte, die ihm glühend heiß
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