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Jagdzeit

Titel: Jagdzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Toman
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hingehören!
    Aber nicht mit mir. O nein. Ich wähle hektisch die Nummer meiner Lektorin aus der Kontaktliste und drücke auf »Verbinden«. Nichts tut sich. Kein Netz. Grandios! Auf Zehenspitzen, weil immer noch barfuß, bewege ich mich, zunehmend genervter, um das Loch herum. Was für eine Ironie das ist: Man verirrt sich in der Wildnis, kann keine Telefonverbindung herstellen, aber die Kündigung, die erreicht einen auch noch, wenn man die Zivilisation längst hinter sich hat.
    Vielleicht kriegst du dich langsam wieder ein und widmest dich den akuten Problemen!
    Vielleicht ist das auch alles Schwachsinn, und ich denke im Kreis. Womöglich wäre es besser, es genau in der entgegengesetzten Richtung zu versuchen. Hauptsache, es tut sich etwas. Ich reibe den Dreck von meinen Fußsohlen, schlüpfe in meine Pumps und suche den Boden ab.
    Aber wo …?
    Wieso …?
    Keine einzige Süßstofftablette weit und breit. Aufgelöst? Weggeweht? Ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist, dass ich mich unwiderruflich verlaufen habe.
    Das ist ja wieder einmal typisch. Nicht einmal an die einfachsten, elementarsten Grundregeln kannst du dich halten. Was ist die wichtigste Sache im Wald überhaupt? Was? Orientierung, richtig.

    Halt die Klappe, Motzmarie. Was soll ich machen? Ich bin ein Großstadtmensch. Ich orientiere mich an Filialen von Starbucks, H&M, Zara, Mango, Esprit, S. Oliver, Lush oder Humanic, ich drehe einen Stadtplan immer in die Richtung, in die ich gerade laufe, ich füttere mein Navigationssystem mit Ort, Straße, Hausnummer, um eine Adresse zu finden. Ich frage manchmal sogar nach dem Weg, und wenn ich gar nicht mehr weiterweiß, dann rufe ich mir ein Taxi. Aber WAS NÜTZT MIR DAS JETZT? Hier gibt es ja bekanntlich KEIN NETZ! Das hier ist DIE NATUR, und ich habe keine Erfahrung mit DER NATUR. Ich befinde mich am Rande eines mittleren PMS-verstärkten Nervenzusammenbruchs, habe gerade erfahren, dass mein großer Schriftstellertraum sich in heiße Luft auflöst, werde von Dorfwilden und bissigen Monstern verfolgt, und du motzt hier herum von wegen Orientierung! Ich habe die Nase voll! Ich will Beton, ich will Baustellen, ich will Abgasgestank, ich will Ampeln, ich will hupende Autos, und in erster Linie will ich HIER RAUS!
    Mit einer weit ausholenden Bewegung sowie einem fast stummen Zischlaut absoluter Verzweiflung werfe ich das nutzlose, böse, widerwärtige Handy in hohem Bogen fort. Noch während es fliegt, denke ich mir, dass das womöglich keine so gute Idee war, angesichts der Tatsache, dass das Gerät, auch wenn momentan netzlos, meine allerletzte Verbindung zur Zivilisation darstellt. Ich hechte hinterher.
    Zu spät, zehn Meter entfernt prallt das Handy gegen einen Baumstamm, und ein markerschütternder Schrei lässt mich mitten in der Bewegung erstarren. Was ist denn jetzt schon wieder los? Was?
    Der Baum! Der Baum schreit!

4 Die Toten verbergen!
    »Stärker als der Tod ist die Liebe. Josef Huber 15. 4. 1887 - 29. 6. 1980.«
    Ich las die Inschrift auf dem Grabstein vor mir und schüttelte stumm den Kopf. Stein an Stein lagen hier die Toten von W. in Gräbern, die viel zu kurz waren, um der tatsächlichen menschlichen Körpergröße auch nur annähernd zu entsprechen. Ich fragte mich, ob man die Toten in Embryonalhaltung in Miniatursärge gequetscht hatte, oder ob unterirdisch Sarg an Sarg stieß und man nur aus Platzgründen oberhalb so sparsam mit den Metern umging, damit noch Raum für die Besucher blieb. Dem Anschein nach suchten diese nämlich leidenschaftlich gerne den Dorffriedhof auf. Zumindest wenn man nach dem gepflegten Zustand der Gräber ging. Alle Achtung, kein einziger Marmordeckel, keine Steinchen, Platten oder sonstigen Hilfsmittel, um dem Unkraut jede Chance zu nehmen. Stattdessen ein Paradiesgärtchen neben dem anderen, als ginge es darum, den örtlichen Blumenschmuckwettbewerb zu gewinnen. Nur eben nicht in Beeten oder an Balkonen, sondern hier, an der letzten Ruhestätte Hunderter Bürger von W., wo die Verstorbenen den Hinterbliebenen dienten, indem sie die Blumenpracht über ihnen düngten. Postmortale Ortsverschönerung. Eine höhere Form von Leben nach dem Tod.
    Ziellos war ich nach dem »Frühstück« (eine viel zu dick geschmierte
Buttersemmel und ein Glas Leitungswasser, denn Kaffee trinke ich nicht) durch den immer noch regennassen Ort geschlendert und unweigerlich, aus Mangel an sonstigen Attraktionen, schon bald in der Kirche gelandet. Eine wilde Stil-Mischung mit einem

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