Jagdzeit
romanischen Turm, einer gotischen Glockenstube samt Spitzdach, einer spätgotischen Sakristei, einem neugotischen Hochaltar und einem barocken Anbau, wie ich einem kopierten Informationszettel beim Eingang entnahm. Nicht besonders beschlagen in Architektur und Geschichte, hatten für mich Kirchen immer nur atmosphärische Bedeutung gehabt, und in dieser Hinsicht zog ich eigentlich schummrige Kathedralen lichtdurchfluteten Dorfkirchen vor. Nicht zu sehen, aber dafür deutlich zu hören, übte ein Organist oben auf der Orgelempore, zumindest sagte mir das die immer wieder einsetzende und abbrechende Orgelmusik, die dem Raum etwas Feierliches gab.
Ich hatte eine Kerze für meine verstorbenen Verwandten angezündet, wie ich es in jeder Kirche auf der ganzen Welt tat, und mich auf Zehenspitzen wieder ins Freie begeben, wo ich nun Grabinschriften las, um mich von meinem aufkeimenden Ärger abzulenken. Dicke Wolken hingen weiterhin zwischen den Bergen, was so in etwa meinem Gemütszustand entsprach.
Ganze sieben Mal hatte ich seit dem Aufwachen versucht, mein Blind Date zu kontaktieren, vier Mal war ich bei einer unpersönlichen Mobilbox-Ansage gelandet, ein Mal war ich durchgekommen, aber niemand hatte abgehoben. Zwei SMS hatte ich außerdem verschickt, eine nette und eine etwas schnippische, die ich gerne zurückgenommen hätte. Doch die Kunst des Überdenkens ist im modernen Elektronikzeitalter nicht mehr viel wert.
SMS = Sendeoption für masochistische Serientäter.
Ja, stimmt, es wäre hilfreich gewesen, hätte ich den Herzenspädagogen vor meinem überstürzten Ausflug in sein Heimatkaff über dieses Vorhaben informiert. Aber wo blieb da die Spontaneität? Wo blieb die Überraschung? Wo die wilde Romantik? Immerhin hatten wir an die zwanzig E-Mails ausgetauscht, uns gegenseitig von unseren Träumen, Wünschen, Hoffnungen berichtet, Hobbys verglichen, Witze erzählt und sogar Telefonnummern weitergegeben, mit dem festen Vorhaben, miteinander zu telefonieren. Wenn das nicht erste Anzeichen für eine aufkeimende Beziehung waren, was dann? Und wenn dem so war, was konnte aufregender sein als eine solch aufopfernde und fantasievolle Tat wie ein Überraschungsbesuch hier am Ende der zivilisierten Welt? Sprach das nicht für eine offenherzige, lebensfrohe, spontane, äußerst intuitive Einstellung zu Liebesangelegenheiten?
Zugegeben, unmittelbar vor meinen Reiseplänen war der Kontakt aus irgendwelchen Gründen eingeschlafen, zum geplanten Telefonat war es nie gekommen, die E-Mails waren kürzer, beiläufiger geworden und hörten schließlich ganz auf. Aber was war mir denn übrig geblieben? Womöglich war das der Mann meines Lebens, und ich wollte nicht schon wieder eine vorzeitige Niederlage hinnehmen. Daher hatte ich den Entschluss gefasst, ihn mit seinem Lebensglück Aug in Aug zu konfrontieren. Zum Zweck größtmöglicher Aufmerksamkeit hatte ich mir das rote Lederjackending gekauft und war losgezogen, um meinem Ritter auf halbem Weg entgegenzureiten, wenn er es schon selbst nicht schaffte, seinen ritterlichen Hintern hochzukriegen.
Mein alter Fehler, das sah ich jetzt ein: wieder einmal zu früh
zu hohe Ansprüche und zu schnell zu einseitige Projektionen. Ich seufzte und las die Inschrift auf dem Grabstein von Josef Unterbichler, Straßenwärter i. R., 1867-1972, und seiner geliebten Frau Theresia, 1872-1969, zum fünften Mal. War Theresia damit Frau Straßenwärter, oder hatte sie einen eigenen Beruf gehabt? Ganz unten auf dem Stein die Antwort: »Deren Sohn Friedrich, nie zurückgekehrt aus dem Dienst am Vaterland«, daneben ein Kreuz und die Zahl 1942. »Trauernde Mutter« hätte wohl unter ihrem Namen stehen können.
Ich sah mich um. Die Enge der Grabstellenanlage hatte einen weiteren Grund, den man mehr hörte als sah: Rund um den Friedhof, entlang der mit schleimigem, graugrünem Moos bewachsenen Steinmauer, floss ein Bach, als wäre es seine Aufgabe, das Reich der Lebenden von dem der Toten abzugrenzen. Über einen kleinen Holzsteg gelangte man auf den Kiesweg, der sich zwischen den Grabreihen hindurchschlängelte. Solange man auf diesem Weg ging, hörte man nicht viel mehr als das Knirschen der Kiesel unter den eigenen Schuhen, aber stand man still oder wagte sich ins noch feuchte Gras, um zu den hinteren Gräbern zu gelangen, war das Plätschern des Bachs klar und deutlich zu vernehmen. Ein zu lebendiger Klang, dachte ich versonnen, um der Soundtrack eines so toten Platzes zu sein.
Auf der anderen
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