Jagdzeit
in die Tiefe blickt.
Folge den Wurzeln, sie führen Dich ans Ziel Deiner Wünsche.
Tief im Wald wirst Du finden, was Du suchst. K. H. M.
Ich streiche mit dem Finger über die blassen Initialen. Ich sehe die schwungvolle Schrift nicht zum ersten Mal, sie stammt von der Hand des lange verstorbenen Dorfdichters von W., Karl H. Mimmer. Doch wer hat die Flaschenpost hier platziert? Will mich jemand auf diese Weise tiefer in den Wald locken? Ist das der Plan? Andererseits ist es mit Sicherheit die Handschrift von Mimmer selbst. Die Worte, ich kann es nicht anders erklären, sie drehen Pirouetten in meinem Kopf, und ich frage mich, was
wohl damit gemeint sein könnte. Äußerst rätselhaft! Äußerst interessant! Äußerst …
Ich erstarre. Da war es wieder, das Geräusch, diesmal über mir, am Rand des Erdloches, ein Rascheln … War da nicht auch der Klang vorsichtiger Schritte? Steine, die an Steine stoßen? Und ein paar feine Erdbröckchen, die in meine Grube rieseln?
»Ist da jemand?«, frage ich mit Piepsstimme und sauge ängstlich an meiner blutigen Lippe. Keine Antwort. Womöglich täusche ich mich, aber ich habe das Gefühl, dort oben atmet jemand. Etwas. Kurz ein und etwas länger aus. Gleichmäßig. Ich verharre kniend, mit schief gelegtem Kopf, und versuche, mich auf den kaum hörbaren Laut zu konzentrieren. Was auch immer da oben lauert, es ist bestimmt nicht mein heldenhafter Feuerwehrmann. Der hätte nämlich längst die Strickleiter ausgerollt und mich auf starken, muskulösen Armen nach oben transportiert.
Apropos nach oben, mault Motzmarie, könntest du vielleicht langsam damit beginnen, dir ein paar fortgeschrittene Gedanken zu der Frage zu machen, wie du hier rauszukommen gedenkst? Der Feuerwehr-Bruce-Willis glänzt nämlich bisher durch Abwesenheit!
Sei still! Da oben ist jemand.
Mit Sicherheit. Herr Spatz oder Frau Meise, zum Beispiel, ebenso wie jede Menge anderes Getier. Willst du jetzt raus aus dem Wald oder nicht?
Will ich? Ich betrachte das Blatt Papier in meiner Hand und bleibe an den Worten »Quelle der Inspiration« und »Ziel deiner Wünsche« hängen. Wäre das nicht ein perfekter Abschluss meines absurden Trips in die Berge? So eine Quelle käme mir schon sehr gelegen, wenn ich daran denke, wie quälend die Schreiberei derzeit vorwärtsgeht. (Deadline!)
Doch bevor ich überhaupt darüber nachdenken kann, wie es weitergeht, muss ich erst einmal aus dieser Falle hier raus. Und als wäre das nicht schon schwierig genug, lauert man mir womöglich auf, um mich hinterrücks zu meucheln, sobald ich oben ankomme. (Wenn überhaupt!) Daher nehme ich die Flasche, hole aus und werfe sie mit Schwung nach oben, aus dem Erdloch heraus. Anschließend presse ich mich, die Hand vor dem Mund, an die Wand des Erdloches und warte ab.
Einundzwanzig. Zweiundzwanzig.
Schweißtropfen rinnen von meiner Schläfe in mein Ohr. Die Luft hier unten ist warm und abgestanden, der faulige Erdgeruch verursacht mir allmählich Übelkeit.
Kein Geräusch. Unbehelligt landet die alte Flasche auf dem Waldboden. Keine aus dem Dickicht abgefeuerte Jägerkugel durchlöchert sie, kein Monster stürzt sich darauf, nichts. Offensichtlich bin ich paranoid. Diese ganze Waldeinsamkeitsepisode ist wirklich nicht mein Ding.
Meine Knie zittern zu stark, als dass ich aufstehen könnte. Der Schweiß durchnässt mittlerweile auch meine Kleidung. Eigentlich bin ich nicht klaustrophobisch veranlagt, aber andererseits war ich auch noch nie in einer drei Meter tiefen Grube gefangen. Ehe ich es verhindern kann, taucht das Bild meiner eigenen Leiche vor mir auf, die hier unten, nach einem qualvollen Todeskampf, von ekligen Krabbeltieren langsam gefressen wird.
Als ich gerade in Verzweiflungstränen auszubrechen drohe, höre ich doch noch etwas. Ein ganz und gar unerwarteter Ton, ein himmlisches, engelsgleiches, verheißungsvolles, liebliches Ding-Ding!
Eine SMS!
Bei meinem Sturz scheint das Handy nicht mit mir ins Loch gefallen, sondern heil daneben gelandet zu sein und ganz ohne mein Zutun eine Netzverbindung gefunden zu haben. Gott sei Dank! Jetzt wird alles gut!
Wenn ich dich daran erinnern darf, dass das Gerät sich DA OBEN befindet und du HIER UNTEN bist …
Das ist allerdings ein Problem. Ich streiche Hilfe suchend über die Linien von Mimmers Handschrift. Jemand hat diese Botschaft hier platziert, aber doch wohl nicht in der Absicht, dem Finder ein paar seltsame Worte mit in die ewigen Jagdgründe zu geben. Die Flaschenpost
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