Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Jagdzeit

Titel: Jagdzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Toman
Vom Netzwerk:
länger nichts passiert, außer dumpfer Schlaflosigkeit bis zur völligen körperlichen Erschöpfung, ratlosen Ärzten, mehr Medikamenten in der höchsten Dosierung. Fast erleichtert hatte er schließlich registriert, dass die Träume zurückkehrten, als er
die Medikamente absetzte, und er zog den Traumschlaf dem Nichtschlaf vor. Seit er in diesem verrückten Dorf war, waren die Träume realer geworden, die Farben intensiver, die Szenen greller.
    Meistens lief er dabei durch die Dunkelheit, lief vor etwas davon, das sich dicht hinter ihm befand. Er floh vor menschlichen Schritten, während er selbst sich nicht aufrichten konnte, sondern sich auf allen vieren durch ein undefinierbares Dickicht bewegte. Es herrschte Mondlicht, doch er konnte ziemlich gut sehen, als wären seine Pupillen darauf eingestellt. Ein unendliches Meer an Gerüchen drang durch seine Nase in sein Hirn, wo es Farben bildete, in bunten Wolken verdunstete. Jedes Zirpen, jedes Knistern klang wie tausendfach verstärkt. Ab und zu träumte er auch von Menschen, von Sarah, von dem Gendarmen, doch diese Träume waren verschwommen und undeutlich.
    Ganz anders der Traum von der Mondnacht. Wieder auf allen vieren, wieder im Dickicht, hatte er diesmal nicht nur Schritte hinter sich gehört, sondern auch Stimmen. Er hatte versucht, sich schneller zu bewegen, doch er war verletzt gewesen. Heißer Schmerz pulsierte in seiner Schulter, und auf einem Auge konnte er nichts sehen, es fühlte sich verklebt an. Er roch die Nähe einer unbestimmten Gefahr, aber auch die von jemand anderem, den er schützen wollte, den er aber nicht erreichen konnte, weil dicke, überdimensional vergrößerte Wurzeln ihm den Weg versperrten. Zweige schlugen nach ihm, Kletten hafteten an seinen Haaren, und selbst die Luft schien zäher und dickflüssiger zu werden. Endlich tauchte Helligkeit vor ihm auf, die aus einer hölzernen Hütte kam. Doch sonderbarerweise schien die Hütte sich von ihm wegzubewegen. Er konnte sie
nicht erreichen, so sehr er sich auch bemühte. Seine Bewegungen waren langsam, als versuchte er, durch unsichtbaren Leim zu schwimmen. Er musste die Hütte erreichen, und je weniger es ihm gelang, desto wütender wurde er. Er wollte schreien, doch nichts außer einem tiefen, knurrenden Laut kam aus seiner Kehle. Er roch sein eigenes Blut sowie den würzigen, süßen Duft von etwas, das in der Hütte über dem Feuer kochte. Die Hütte! Zunehmend erschöpft kämpfte er sich vorwärts, bis ihn ein entsetzlich lauter Knall zusammenzucken ließ und er schweißgebadet in seinem Wirtshausbett erwachte.
    Selten hatte er so anschaulich geträumt, und obwohl der Morgen gerade erst dämmerte, trieb ihn die Erinnerung an den Traum aus dem Bett. Er hatte den Friedhof aufgesucht, dieses Paradies der Minigärtchen. Düsteren Traumgedanken nachhängend, war er zwischen den Gräbern herumgeirrt, hatte Skizzen angefertigt und Inschriften studiert. Dabei waren ihm die Jahreszahlen aufgefallen. Warum starb man in W. entweder extrem früh, extrem spät oder in Folge von tragischen Unfällen? Warum?
    Die Fremde nippte an einem Glas Wein und blickte sich immer wieder im Saal um. Bei jedem Öffnen der Tür hob sie ruckartig den Kopf, was den Schluss nahelegte, dass sie tatsächlich jemanden erwartete. Wen? Wer konnte das sein? Er hatte nicht den Eindruck, dass sie in irgendeiner Beziehung zu W. stand, weder familiär noch emotional. Dazu bewegte sie sich zu unsicher unter den Einheimischen, benahm sich zu auffällig und wirkte fehl am Platz wie ein Rotkehlchen auf dem Markusplatz. Ihr fehlte das Taubengen, das Zugehörigkeit vermittelte und Anonymität garantierte. Sein hochheiliges Taubengen, das ihm ansonsten so zuverlässig diente. Nur hier in W. waren sie
beide Außenseiter, allerdings mit dem Unterschied, dass sie sich der Gefahr, die darin lag, nicht bewusst war.
     
    Immer wieder dachte er über die Begegnung mit ihr auf dem Friedhof nach, fragte sich, warum sie ihm gegenüber offensichtlich prinzipiell die Krallen ausfuhr, hatte jedoch keine Erklärung für ihr absurdes Verhalten. Viele Menschen reagierten misstrauisch auf ihn. Selten schlief er lang genug, dass sein Teint statt eine fahlgraue eine rosige Farbe zeigte. Die dunklen Ringe unter seinen Augen waren die einzigen verlässlichen Begleiter seines Lebens, und da er berufsbedingt den Finger auf Wunden legte, unangenehme Fragen stellte und Gesichter studierte, war er noch nie zum beliebtesten Mann des Landes nominiert worden.

Weitere Kostenlose Bücher