Jagdzeit
Und ein Gendarm ist durch Verbrecherhand ums Leben gekommen. Außerdem ist da noch so ein … Schnüffler.«
»Hast du getrunken?«
»Ich nicht. Er. Cola aus der Dose. Er hat mich skizziert, und auf dem Friedhof hat er Gräber gezeichnet. Kannst du dir vorstellen, der trägt Cordhüte und Cowboystiefel.«
Am anderen Ende der Leitung war es still.
»Sorina?«
»Entschuldige, ich musste nur kurz eine Dosis Riechsalz zur Hand nehmen. Hast du Cord gesagt? Cord ?«
»Sag einmal, hast du überhaupt verstanden, was ich …«
»Ein Perverser! Keep away, und zwar weit, weit away, hörst du mich? Normale Menschen tragen keine C-o-r-d-hüte! Und
Cowboystiefel? Ich bitte dich, da brauche ich kein Haubenkoch zu sein, um zu wissen, dass die Scheiße am Dampfen ist! Scheiße an Limettenschaum mit handgerollter Vanilleschote, meine Liebe!«
Ich lachte, und obwohl das der Situation ein wenig ihr Pathos nahm, hatte ich immer noch so ein feines Kribbeln im Bauch. In W. war etwas ganz und gar nicht in Ordnung, und womöglich war genau das mein Weg aus der Schatzhöhlenfalle. Harrison Ford wüsste genau, was das für ein Kribbeln war.
Ich verabschiedete mich von Sorina und setzte mich an den wackligen Holztisch am Fenster. Zum ersten Mal seit mehreren Wochen öffnete ich mit zitternden Händen mein MacBook, startete das Schreibprogramm, wartete auf die verhängnisvoll leere, weiße Seite und füllte sie, ohne viel darüber nachzudenken, mit Text.
Sarah hörte ganz zuletzt das Geheimnis flüstern .
Zufrieden klappte ich eine Stunde später den Computer zu, nachdem ich diesen Schlusssatz geschrieben hatte, und atmete tief durch. Ich dachte über das Geheimnis nach und fragte mich, woher all die Bilder kamen. Wie konnte ich in Sarahs Kopf blicken, wie?
Das Schreiben selbst war so ein Geheimnis, der Vorgang hatte fast etwas von der Kunst der Wahrsagerei. Was war es anderes, als eine Lebensgeschichte aus den feinen Linien eines Handtellers herauszulesen? Ein Grab, eine Inschrift, eine Stirnfalte, eine Kopfbewegung, die Farbe einer Pupille, der Geruch in den Kleidern, was war das alles, wenn nicht sich kreuzende Kerben des Wesens dahinter? Und woher wusste man, was man wusste, wenn man schrieb? Erschuf man oder durchschaute
man? Gab man Dingen Namen, oder erriet man sie? Und wenn dem so war, warum verließ mich diese Kunst immer wieder? War sie nicht ein Teil von mir? Wie tief musste ich in die Geheimnisse eindringen, ehe ich ohne die Angst vor Deadlines oder leeren Seiten leben konnte? Wie tief?
Während ich unter der Dusche stand und mir das warme Wasser übers Gesicht rinnen ließ, dachte ich über meine Begegnung auf dem Friedhof nach. Sicher war es komisch, mit Sorina über den perversen Schnüffler zu lachen, doch Tatsache war, dass er mir Angst machte. Dieses Kindergrab mit der Kitsch-Deko war schon wirklich gruselig gewesen. Es hatte nur noch eine kleine Hand gefehlt, die durch die Erde nach mir grapschte. Ich schauderte und drehte den Wasserhahn auf »heiß«. Welches Ding hat wohl nach Sarah geschnappt?
Ob der Schnüffler wirklich ein Perverser war und die reale Gefahr bestand, von ihm in einer dunklen Ecke ein Messer an die Kehle oder sonst wohin gedrückt zu bekommen? Ich rieb mir das Wasser aus den Augen und starrte ängstlich den Duschvorhang an. Aber das war doch Unsinn! Solche Sachen passierten nur in Filmen. Von mir aus auch bei Aktenzeichen XY, aber nicht mir, einer stinknormalen Schriftstellerin, die ein wenig Luft, Liebe und Inspiration in den Bergen schnappen wollte. Die schwerwiegendste Entscheidung des Tages bezog sich auf ein schwarzes und ein weißes Höschen, also, what the hell?
Ich goss zum vierten Mal Shampoo über meinen Scheitel, schäumte es auf und massierte meine Kopfhaut, weil ich hoffte, dass diese Behandlung auch gleich meine Gehirnzellen in Gang bringen würde. Diese Jahreszahlen auf den Grabsteinen waren schon sonderbar, aber las man nicht andauernd von solchen
Phänomenen? Permanent gab es Interviews mit quietschfidelen Hundertjährigen, die in Segelbooten um die Welt reisten, am New-York-City-Marathon teilnahmen, ihre Jugendliebe zum Altar führten oder in Baströckchen Theater spielten. Man brauchte sich nur Johannes Heesters anzuschauen, der erstaunlich lange singend und tanzend das Leben genoss. Die Menschen wurden heutzutage nun mal älter. Punkt.
Aber das waren keine Gräber von gerade erst Verstorbenen , flüsterte eine penetrant ernste Stimme in meinem linken Gehörgang,
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