Jagdzeit
Doch solch eine offene, irrationale und anhaltende Abneigung war eine neue Erfahrung für ihn.
Wer auch immer ihre Verabredung war, er oder sie kam anscheinend zu spät, denn die Fremde warf immer verzweifeltere Blicke auf ihr Handydisplay. Sie schien eine dieser Frauen zu sein, die keine Armbanduhren mehr tragen, sondern ihre Mobiltelefone als Zeitmesser verwenden. Eine Modeunart. Ihr Weinglas war bereits leer. Bestimmt wartete sie auf einen Mann.
Dadurch, dass sie mit dem Rücken zu ihm saß, hatte er Gelegenheit, sie genauer zu studieren. Es juckte ihn in den Fingern, sie so zu zeichnen: die Rundung ihres Hinterkopfs, die Kurzhaarfrisur, die mit viel Gel in eine wirre Form gezwungen war und farblich zwischen dunkelblond und mittelrotbraun schwankte. Billigtönung aus dem Drogeriemarkt. Ihre gerade aufgerichtete Wirbelsäule, der Kopf, den sie immer erhoben trug, wie es Menschen zu tun pflegten, die wussten, was sie
wollten, auch wenn sie es nicht bekamen. Er griff nach seinem Bleistift, legte ihn aber wieder weg. Nicht heute. Er musste nachdenken.
Er ärgerte sich über die Ablenkung. So war das nicht geplant, schließlich war er hier, um im Geheimen zu agieren, still, schnell und ohne Aufsehen zu erregen, wie üblich. Mit der Fremden konnte es zu Problemen kommen. Ernsten Problemen. Er durfte sich nicht von seinem Weg abbringen lassen, diese Mission war zu wichtig. Sarahs Tod war erst die Spitze eines Eisbergs. Er hatte bisher nur wenig herausgefunden, nichts als merkwürdige Andeutungen gehört und zwei ganz und gar unheimliche Sammlungen besichtigt. Die eine in Mimmers Keller, die andere in Unterbergers Obergeschoss. Er schauderte.
Jetzt galt es, aufmerksam zu sein. Wie lange war er unter den Einheimischen noch in Sicherheit? Er hatte das Gefühl, dass seine Tage in W. gezählt waren.
Was in dem geheimen Kapitel der Ortschronik stehen mochte, beschäftigte ihn am meisten. Der Dorfdichter Mimmer hatte darin womöglich etwas aufgezeichnet, das zur Lösung des Falls beitragen konnte. Das berühmte, verschollene Kapitel! Was hatte die mysteriöse Lady Grey darin entdeckt?
Dass etwas nicht stimmte in W., war klar, aber solange er keine genaueren Angaben dazu hatte, blieb er unruhig. In jedem Blick, in jeder Geste konnte sich ein Geheimnis verbergen. Oder eine Gefahr.
Bedenklich war, dass ihn die Lebenden mehr ängstigten als die Toten, die Gesunden, die Alten, die Uralten, die nicht sterben wollten. Er hatte den Verdacht, dass der Schlüssel zu Sarahs Geheimnis viel eher bei ihnen zu finden war als auf dem Friedhof.
O ja, hier in der Gifthütte saßen sie, rudelweise, mit runden, glänzenden Gesichtern, vor Gesundheit strotzend. Immer nur die Männer. Seit er hier war, war außer der Wirtin nie eine Frau im Wirtshaus gewesen. Die Fremde hatte gestern bei ihrem Auftritt wie ein knallrotes UFO gewirkt, kein Wunder, dass sie Aufsehen erregte. Eine Männerwelt.
Ein paar Gesichter kannte er mittlerweile. Da, am Kopf des Stammtisches, mit der lautesten Stimme, das war der Bürgermeister, der gleichzeitig den einzigen Laden im Ort betrieb, ein kleines Lebensmittelgeschäft. Er war kräftig, aber nicht dick, etwa fünfundfünfzig, trug ein ziemlich gut gemachtes Toupet und konnte erstaunliche Mengen Bier konsumieren, ohne auch nur ansatzweise alkoholisiert zu wirken. Reich, natürlich, und wenig geschickt darin, dies zu verbergen. Unbeliebt bei den Bauern. Neben ihm saß der Oberförster und Jagdaufseher, ein dünner, glupschäugiger Bursche von etwa fünfundvierzig Jahren mit schlechten Zähnen, den er noch kein einziges Mal hatte lächeln sehen. Dafür kratzte er sich dauernd hinter dem Ohr, ein Tick. Die beiden steckten die Köpfe zusammen, hin und wieder sahen sie ihn böse an oder deuteten auf die Fremde, ohne ihr leises Gespräch je zu unterbrechen.
Am anderen Ende des Stammtisches saßen die restlichen Jäger, junge Burschen mit dummen Gesichtern, die sich permanent ordinäre Witze erzählten, die ihnen niemals auszugehen schienen, und dann grölend darüber lachten.
Der Ecktisch war, wie meistens, von den alten Bauern besetzt, eine Riege faltiger Gestalten, die er auf etwa siebzig schätzte, obwohl sie auch gut achtzig oder neunzig sein konnten. Richtig alt sah in diesem Ort niemand aus, so viel hatte er bereits gelernt. Sie redeten miteinander in einem breiten lokalen
Dialekt, der fast nicht zu verstehen war, und ab und zu spielten sie Karten, wobei sie ihre Punkte akribisch in lange Listen eintrugen.
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