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Jagdzeit

Titel: Jagdzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Toman
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verdächtig rumort. Ich bete zu Gott, dass es nur die Himbeeren sind. Denn andernfalls …
    »Ahuuuuuuuuuu!«
    Neuerliches Wolfsheulen. Näher diesmal. Den Rücken fest an den Stamm des Baumes hinter mir gedrückt, stehe ich mühsam und mit verkrampften Gliedern auf. Was für ein Witz. Der enormste Muskelkater meines Lebens und kein anderer Weg aus meiner Misere als ein blinder Lauf durchs nächtliche Gestrüpp. Doch das ist keineswegs das Ärgste, denke ich noch, kurz bevor ich endgültig hysterisch zusammenklappe. Denn dort unten, im Schritt meiner Hose, um mindestens einen Tag zu früh, kann ich die unangenehme Feuchtigkeit spüren, die mir den Rest gibt. Blut, denke ich, Sekunden vor dem Blackout. Wölfe riechen BLUT!

7 Auszug aus dem Romanfragment »W.« von Olivia Kenning nach einer wahren Geschichte
    Zweites Kapitel: Der Gendarm
    Blut! Blut, das sein Hemd an einer Seite völlig durchnässt. Wie tief ist die Wunde? Ein Streifschuss, sicher, doch der Blutverlust ist bedenklich, und der Weg ist noch lang. Hinter dem Berg geht die Sonne orangerot unter. Gut möglich, dass er sie zum letzten Mal sieht. Er bleibt stehen und betrachtet das Farbenspiel, wobei er eine Hand fest an die verletzte Seite drückt. Zeit ist der entscheidende Faktor. Wenn es dunkel wird, sind sie im Vorteil. Trotzdem gelingt es ihm nicht, sich von der Schönheit des Sonnenuntergangs loszureißen. Blutrot, blutrot!
    Er hat sein Bestes getan, wobei für ihn das Beste gleichzusetzen ist mit dem Richtigen. Es ist, verdammt noch mal, sein Beruf, für Recht und Ordnung zu sorgen, und die Dinge in W. sind seit der Sache mit dem alten Mimmer aus den Fugen geraten. Er denkt an seine Frau und an die Kinder. Wally ist gerade zwölf geworden, eine Prinzessin und ein Mathematikgenie. Rudi ist neun Jahre alt, jeden Sonntag spielen sie zusammen Fußball auf dem kleinen Stück Rasen hinter dem Haus, während Anna Julius, den Kleinsten, auf dem Arm trägt und ihnen durch das Küchenfenster zuwinkt. Was soll aus ihnen werden? Bekommen sie eine Rente, wenn er die andere Seite des Berges nicht erreicht? Und vorausgesetzt, er erreicht sie, wird das Dorfmonster sie auffressen, wie es alle anderen auffrisst?

    Ironie des Schicksals, beinahe wäre er entkommen. Die Dose sicher in der Innentasche seiner Dienstjacke verstaut, hatte er sich auf sein Fahrrad gesetzt, angeblich um einen Kollegen im anderen Tal zu besuchen. Und fast hätten sie ihn gehen lassen, wäre da nicht die Sache mit den Kopien gewesen. Er musste die Kopien mitnehmen, als einzigen Nachweis darüber, was sich in W. abspielt, doch er hatte ihre Übermacht unterschätzt.
    Hinter ihm Geräusche. Sind sie wirklich schon so nah? Mühsam steigt er weiter den Berg hinauf, Schritt für Schritt, während ihn die Dämmerung einhüllt. Er hatte nie wirklich eine Chance, das ist ihm klar. Am Dorfrand haben sie auf ihn gewartet, die ganze Meute, mit Schlagstöcken und Gewehren, haben ihn wie wild gewordene Hunde vom Fahrrad gezerrt und auf ihn eingeschlagen, mit starren Gesichtern und gebleckten Zähnen. Der Wahnsinn hat in W. bereits die Oberhand. (Das Monster!)
    Er konnte sich losreißen und ist in den Wald geflüchtet. Alle haben sie hinter ihm hergeschossen, daher ist es schwer zu sagen, wer ihm letztendlich den Streifschuss verpasst hat. Rupert wahrscheinlich, ihr Anführer, er konnte immer schon am besten zielen. Sein Spitzname unter den Männern ist nicht umsonst Robin Hood, auch wenn er mit seinem Namensgeber sonst nicht viel gemeinsam hat.
    »Wir kriegen dich«, haben sie ihm nachgebrüllt, und er weiß, dass sie recht haben. Sie haben noch jeden gekriegt, der die Regeln verletzt hat, die Regeln sind das Einzige, woran sie wirklich glauben. Jeden Sonntag sitzen sie in der Kirche und beten zu Gott, aber in Wahrheit beten sie zu den Regeln, als erteile ihnen das eine Art von Absolution.
    Er ballt die Hand zur Faust. Seine Kraft reicht kaum mehr aus, um mit den Nägeln den Ballen zu berühren. Mit dem Blut fließt
die Kraft aus ihm heraus, und seine Zeit läuft schneller ab, als ihn seine Füße tragen können, seine unnützen, kraftlosen Füße.
    Er stürzt. Die Beine unter ihm geben einfach nach, knicken ein wie Streichhölzer. Es geht zu Ende, das weiß er, doch er betet nicht zu Gott im Himmel, weil er schon lange aufgehört hat, an Gott zu glauben. Gott, wenn es ihn je gegeben hat, hat W. bereits vor vielen Jahren verlassen. Womöglich ist er auf demselben Weg über die dunklen Berge geflohen wie er,

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