Jagdzeit
deine Fragen beantworten!«
Zufrieden lässt der Wolf von seiner Verfolgung ab und legt sich quer über den Weg. Seine Stimme nimmt wieder den kreideweichen Tonfall an. Man könnte ihn für einen Streichelwolf halten, wüsste man es nicht besser.
»Kluge Entscheidung, Olivia. Hör gut zu! Wenn du meine drei Fragen richtig beantwortest, werde ich dein Leben verschonen und dir selbst drei Fragen zugestehen. Du solltest dir gut überlegen, was du wissen willst. Wenn du nämlich die falsche Frage stellst, bist du ebenfalls verloren.«
»Die, äh, falsche Frage?« (Es gibt falsche Fragen?)
»Die verbotene Frage. Hast du die Regeln verstanden?«
»Nicht ganz. Was genau habe ich denn bei der Wette zu gewinnen?«
»Dein Leben, Olivia, das somit in deiner eigenen Hand liegt. Wenn du alles richtig machst, steht nichts zwischen dir und dem Ziel deiner Wünsche.«
»Und, äh, wenn nicht?«, frage ich den Fleischfresser.
Er prustet abfällig durch die Schnauze und lässt demonstrativ die Zunge zwischen den Zähnen hervorblitzen.
»Dann gehört dein Leben mir.«
Ich wäge meine Möglichkeiten ab. Davonlaufen steht bekanntlich nicht zur Debatte, Waffen besitze ich keine, nicht einmal Pfefferspray, und mit bloßen Händen ist das Wildtier
nicht zu überwältigen. Angesichts seiner Übermacht ist die Sache mit den Fragen eigentlich ein fairer Deal, der mir zumindest eine minimale prozentuale Überlebenschance zugesteht.
Promille, höchstens! , piepst Motzmarie.
Ich kratze mich am Kopf.
»Nun gut. Da mir nichts anderes übrig bleibt, stell mir eben deine Fragen.«
Der Wolf leckt sich mit einer gefährlich blutroten Zunge über die Schnauze, legt den Kopf in den Nacken und stößt ein markerschütterndes Heulen aus. Mir läuft es kalt den Rücken hinunter, an meinen Haarwurzeln kribbelt es verdächtig, und mein Herz setzt für ein paar endlose Sekunden aus. Hektisch krame ich in meiner Tasche, finde die Johanniskrauttabletten und schlucke hastig zwei davon. Irgendwann müssen die doch eine Wirkung haben!
»War das … unbedingt notwendig?«
»Die Regeln bestimme ich, ist das klar?«
Wie zwei Judokas vor dem ersten Griff starren wir uns an, der große graue Wolf und die durch die Wildnis aufs Äußerste reduzierte Stadtfrau. Ich wage kaum zu blinzeln, aus nackter Angst, den bis dato nicht erfolgten Angriff durch die unbedachte Bewegung eines Augenlides zu provozieren.
Majestätisch streckt sich das Raubtier und senkt lauernd den Kopf.
»Sage mir zum Ersten, wenn du es weißt, wohin der Weg dich führt, auf dem du dich befindest.«
Instinktiv blicke ich mich um. Selbstverständlich führt der Weg in zwei Richtungen, hat folglich nicht nur ein einziges Ziel. Die Frage ist ja auch, wohin der Weg mich führt. Dazu müsste ich allerdings wissen, was in der Richtung liegt, für die
ich mich entschieden habe, was bekanntermaßen bei meinem Orientierungssinn problematisch ist. Was ist das Ziel? Eine Fangfrage, es sei denn … Etwas, das der Wirt zu mir gesagt hat, kurz vor der Sache, an die ich nicht denken will (keinesfalls!) , kommt mir in den Sinn, etwas über den Wald und die Wege. Auch Mimmers Flaschenpost fällt mir ein: Du bist auf dem richtigen Weg. Daher ist die Antwort auf die Frage …
»Der … der Weg.« Ich räuspere mich. »Das ist völlig klar. Der Weg führt mich zu einer Hütte im Wald, einer Hütte unter einem großen Baum. Das ist das Ziel meiner Suche, da will ich hin, dafür habe ich mich entschieden. Und daher«, ich stocke bei der plötzlichen Erkenntnis, »führen alle Wege dorthin.«
Der Wolf nickt anerkennend. Ich wische mir den Angstschweiß von der Stirn.
»Sehr gut. Wir wählen unsere Ziele selbst und finden die Wege, die wir suchen. Doch das ist nur die Hälfte der Wahrheit. Sag mir darum, wenn du es weißt, zum Zweiten, wer lebt in dieser Hütte, die du zu erreichen wünschst?«
Triumphierend lächle ich den monströsen Fragensteller an. Auch das hat der verrückte Sepp mir verraten, wenngleich er etwas schwammig in den Details war.
»Dort lebt ein altes Großmütterchen, das sagenhaft gut kochen kann, geheimnisvolle Tränke braut und sich bestimmt sehr über meinen Besuch freut.«
Es kann nicht schaden, die Dringlichkeit meines baldigen Aufbruchs zu betonen, sowie die Möglichkeit anzudeuten, dass ich erwartet werde und jeden Moment mit Hubschraubern, Maschinengewehren und scharfen Hunden nach mir gesucht wird.
»In der Tat, so kann man es nennen«, knurrt der Wolf. »Du rätst gut,
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