Jagdzeit
umfangreichen Mimmer-Archiv befand sich hier auch eine für ein so kleines Bergdorf äußerst ambitionierte Ausstellung mit Handschriften, Fotografien des jungen, mittleren, älteren und ganz alten (einhundertacht!) Mimmer sowie Tafeln mit Zitaten aus seinem Werk, kritischen Äußerungen von Zeitgenossen und den wesentlichen Daten seines Lebens.
Durch das staubige Dachfenster blickte ich auf die verwaiste Dorfstraße hinunter und dachte darüber nach, wie es gewesen sein musste, als Künstler hier in der Dorfgemeinschaft zu leben. Mimmer hatte in seinen Werken anscheinend viel über die Einsamkeit geschrieben und bis zu seinem Lebensende allein in diesem Haus gelebt, ohne Frau, ohne Haustier, ohne nähere Verwandte. Nicht einmal eine lästige Stubenfliege fand irgendwo Erwähnung. Nur Dinge.
Als junger Mann arbeitete er, nachdem er eine eher beschauliche Kindheit auf dem Bauernhof verbracht hatte, als Lehrer in der Dorfschule, später als Deutschlehrer in Salzburg. Im Ersten Weltkrieg war er freiwillig Soldat gewesen, trotz seiner bereits sechzig Jahre, war in italienische Kriegsgefangenschaft geraten und als lungenkranker Pazifist zurückgekehrt. Danach hatte er den Durchbruch als Schriftsteller geschafft, erst durch die Veröffentlichung seiner Kriegstagebücher, später durch bahnbrechende Erzählungen über das bäuerliche Leben. Man liebte ihn für seine idyllischen Naturbeschreibungen, ohne der Ironie zu viel Bedeutung zuzumessen, die in jeder seiner Geschichten durchklang.
Während des Zweiten Weltkriegs war Mimmer einer der wenigen wirklich anerkannten Autoren, was ihm danach allerdings einen Knick in der Karriere bescherte. Man warf ihm vor, zu seinem eigenen Vorteil angepasst gewesen zu sein, zumal er in dieser Zeit, als bereits über neunzigjähriger Mann (um Himmels willen!), auch Bürgermeister von W. und als solcher komplett regimetreu war. Die Verachtung von Kollegen und Öffentlichkeit hatte er nie so richtig verkraftet, zog sich immer mehr in die Berge zurück, ein etwas verrückter Sonderling mit eigenartigen Hobbys. Bis zu seinem Tod arbeitete er an einer
Ortschronik von W., die im Archiv ausgestellt war. Als leidenschaftlicher Sammler hatte er verschiedenste »Exemplare« (von was wohl?) zusammengetragen und sich anatomischen Studien gewidmet.
Anatomie.
Ich dachte an die Worte der Kassiererin und stieg neugierig die knarrende Treppe hinunter. Die Wohnräume waren nicht besonders faszinierend, wenngleich auf eigenartige Weise rührend. Die alten Möbel waren staubbedeckt, an den Wänden hingen kaputte Uhren, Jesus- und Marienbildchen, ein großer Keramikengel, dem ein Arm fehlte, asiatisch aussehende Schwerter, reich verzierte Spazierstöcke. Außerdem standen dort jede Menge schiefe Bücherregale voll antiquarischer Werke. Buchrücken an Buchrücken, stumme Zeugen, ihrer Existenzberechtigung beraubt. Verblichener, wertloser Nippes war dazwischen verteilt, grenzenloser Kitsch, den wohl seit Jahren niemand in der Hand gehabt hatte. Auf dem Schreibtisch befand sich eine uralte mechanische Schreibmaschine. Die Atmosphäre in den niedrigen Räumen war düster, trotz der eingeschalteten Lampen gab es Ecken, in die das Licht nicht vordrang. Die Schatten unter den Möbeln behielten die Oberhand und schienen immer weiter in den Raum hineinzukriechen. Schleichend.
Ich rieb kräftig meine Arme, um die Gänsehaut zu verscheuchen, und stieg zögernd die unebenen Stufen ins Untergeschoss hinab.
Der Augapfel im Einmachglas sah alt aus. Die Flüssigkeit, in der er schwamm, mochte einmal klar gewesen sein, mittlerweile hatte sie eine schlammbraune Farbe angenommen und bildete breite, dunkle Ränder am Glas. Ähnliche Exponate standen
dicht an dicht in dem schlichten Holzregal. Da waren nicht nur Augäpfel, sondern auch Finger, Zähne, Ohren, Krallen, Schnäbel (Hilfe!), diverse undefinierbare Innereien und vereinzelt ganze Hände und Füße. Doch die Dominanz der Augäpfel war unübersehbar. Es gab sie in allen Größen, Formen und Farben. Augapfeldisneyland sozusagen.
Der Dorfdichter hatte Körperteile gesammelt, menschliche wie tierische, Regal reihte sich an Regal, dazwischen hingen detailreiche Kohlezeichnungen und Schwarz-Weiß-Fotografien ebendieser Körperteile, eine Unmenge Wildtierköpfe, Hirschgeweihe, Bärentatzen und noch mehr kaputte Uhren. Unfreiwillig fasziniert schritt ich von Regal zu Regal, betrachtete die Einmachgläser mit ihrem gruseligen, ekligen Inhalt und fragte mich, was, in
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