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Jagdzeit

Titel: Jagdzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Toman
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Menschenfrau. Doch sag mir weiter, wenn du dich so
weise nennst und dir dein Leben lieb ist«, er macht ein paar lautlose Schritte auf mich zu, fletscht die Zähne und legt die Ohren bedrohlich an, »was verbirgt sich hinter der Tür, die aus dem Holz des Baumes ist, dem man nicht ansieht, aus welcher Wurzel er spross?«
    Ich starre den Wolf an. Mein Herz klopft laut in meiner Brust, laut genug, dass er die Wahrheit hinter den Schlägen hören muss: Ich weiß die Antwort nicht. Wie kann er auch von mir erwarten, dass ich eine Ahnung habe, was hinter einer Tür ist, die ich nie geöffnet habe?
    »Ich …«
    »Nun?«
    Verdammt. Sage ich nichts, hab ich verloren, rate ich falsch, ebenso. Wolfsfutter, ganz eindeutig. Dennoch sollte ich meine einzige Chance nützen und raten. Ging es nicht die ganze Zeit darum, die Quelle der Inspiration zu finden? Führen nicht alle Wege dorthin? Was spricht also dagegen, dass die Türen sich wie die Wege verhalten, zumal Sibby etwas von einem Baum - einer Esche - erwähnt hat.
    »Hinter der Tür«, rate ich also völlig ins Blaue hinein, »befindet sich der …«
    »Sei still!«
    Der Wolf tritt neben mich, wo er starr stehen bleibt, mit flach nach hinten gestreckter Rute und aufgerichteten Ohren. Etwas hat seine Aufmerksamkeit erregt. Armes Etwas!
    Seine Zähne sind entblößt, ein leises, aber umso gefährlicheres Knurren scheint direkt aus seinem Bauch zu kommen. Sein eines Auge sieht an mir vorbei. Aus der Nähe betrachtet fällt mir auf, dass die Iris einen sonderbaren blaugrauen Farbton hat, der das Schwarz der unnatürlich großen Pupille wie Meerwasser
umspült. Die Farbe erinnert mich an etwas, doch ich komme nicht darauf.
    »Ich habe doch noch gar nicht ge…«
    »Still!«, fährt er mich an. »Ich warne dich. Rühr dich nicht von der Stelle, bis ich wiederkomme, sonst hat dein letztes Stündchen geschlagen!«
    »Bis du wiederkommst? Aber ich …?«
    Der Wolf stürzt sich mit einer einzigen schnellen Bewegung auf mich. Ehe ich weiß, wie mir geschieht, liege ich am Boden, der Wolf hockt auf mir drauf, der heiße Atem aus seinem entsetzlichen Maul streift meine Kehle, sein Gebiss ist nur Millimeter von meiner Halsschlagader entfernt. Ich wage nicht, Luft zu holen oder das Blut hinunterzuschlucken, das ich am Gaumen schmecke. Ich muss mir vor Schreck auf die Zunge gebissen haben. Kein Schmerz, nur Taubheit.
    »Ich finde dich, Olivia Kenning, falls du es wagst, ohne meine Erlaubnis auch nur einen Schritt auf diesem Weg zu machen.« Seine Stimme ist nicht mehr als ein Hauch. »Und wenn ich dich finde, dann wird das weit schlimmer für dich, als du dir das Gefressenwerden je ausgemalt hast. Deine dunkelsten Albträume werde ich Realität werden lassen, so wahr ich Gagnrad heiße. Hast du mich verstanden?«
    Ich nicke stumm, die einzige Regung, zu der mein zitternder Körper in der Lage ist. Zwei, drei endlose Sekunden lang verharrt er auf mir, ehe er mit einem weichen, lautlosen Sprung im Gebüsch verschwindet.
    Ich wäre wohl einfach liegen geblieben, dort am Waldboden, mitten am Weg, den zu finden mich so große Mühe gekostet hat. Angststarre hätte mich mein Urteil erwarten lassen, ob gut oder schlecht. Doch gerade als die ersten Tränen zu fließen beginnen,
höre ich, was der Wolf lange vor mir gehört hat. Abrupt setze ich mich auf. Menschliche Stimmen. Viele menschliche Stimmen. Und dann, plötzlich, aus dem Nichts der Waldstille: ein Schuss!
    Verdammt noch mal, was hockst du da und schaust blöd? Mach, dass du hier wegkommst, ehe dich entweder der Wolf oder die Jäger erwischen! Deine Probleme haben sich soeben potenziert!
    »Aber der Wolf sagte …«
    Herrgott! , kreischt Motzmarie, du glaubst doch wohl nicht ernsthaft, dass der Wolf dir eine gute Reise wünschen wird, wenn du brav hier hocken bleibst, Trivial Pursuit mit ihm spielst und artig bitte und danke sagst! Eine bessere Chance zur Flucht als diese wirst du nicht mehr bekommen, also ab durch die Mitte!
    Dieses Argument zieht. Ohne weiter zu zögern, stolpere ich ins Dickicht hinein und laufe querbeet durch den Wald. Auf dem Weg kann ich nicht bleiben, den bewacht ja Meister Graubart, also muss ich die Hütte eben in der Wildnis finden. Oberste Priorität ist jedoch erst einmal, so viel Abstand wie möglich zwischen mich und meine menschlichen wie tierischen Verfolger zu bringen. Land gewinnen, dann sehen wir weiter. Tatsächlich werden die Geräusche - abwechselndes Wolfsheulen, Schreie und Schüsse - leiser, je

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