Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Jagdzeit

Titel: Jagdzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Toman
Vom Netzwerk:
auch wenn der Gendarm nicht darauf wetten würde. Bitter schmeckt es, das Ende des Weges, bitter und staubig wie die Kiesel in seinem Mund. Lebend wird das Dorf ihn nicht bekommen, so viel steht fest. Er darf den geheimen Ort nicht verraten (das Hauptquartier!), darf Mimmers Erbe, die Originale, nicht erwähnen. Aber er fürchtet die Schmerzen, die sie ihm zufügen werden, fürchtet den gebrochenen Willen, das schwache Fleisch, die Qual. Vor allem die.
    In einem letzten Aufbäumen nimmt er seine restliche Kraft zusammen, zerrt er die Dose aus seiner Tasche, die kleine, rote Dose, in der das Monster schläft, und die nun seine letzte Zuflucht ist. Das Frissmeinnicht, wie sie es vor den Kindern immer genannt haben. Die Dunkelheit hüllt ihn mittlerweile ganz ein, die Stimmen seiner Verfolger scheinen noch näher gekommen zu sein. Das kann aber auch eine Täuschung sein, die Akustik der Berge ist trügerisch.
    »Verzeih mir, Anna«, sagt der Gendarm in die Dunkelheit, als er ohne Eile den Deckel von der Dose schraubt, einen kurzen, ewigen Moment lang die Nachtluft einatmet und schließlich vorsichtig die Hand in die Dose steckt. Das Monster knurrt zufrieden.

8 Die SMS 2 - gelöscht
    treffen heute nicht möglich! sry!
morgen gleiche zeit gleicher ort?!
cu der herr lehrer

Die Akte W.
    TEIL 3: DIE JAGD

1 Der Kopf rollt!
    Das Gesicht starrte mir aus einer antik anmutenden, stark verblichenen Fotografie entgegen. Es war eines dieser tief zerfurchten, an zerknüllten Papyrus erinnernden Gesichter sehr alter Naturmenschen, die trotz der Falten und Altersflecken, trotz der Lebenslinien um die schmal gewordenen Lippen, trotz der dicken Tränensäcke Kraft und Gesundheit ausstrahlen. Dickes, hellgraues Haar wuchs etwas wirr auf dem braun gebrannten Kopf, und die ebenso wild wuchernden Augenbrauen betonten die stechend blauen Männeraugen, die trotz der geröteten und geschwollenen Lider funkelten und blitzten. Ein Charakterkopf, eindeutig. Ich las die Jahreszahl darunter etwa neun Mal, ehe der Groschen fiel und ich begriff, was sie bedeutete.
    Einhundertacht.
    Der Mann auf dem Foto war unglaubliche einhundertacht Jahre alt. Es war das letzte Foto von ihm, ein paar Monate später war er bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ein Autounfall mit einhundertacht. Ich fragte mich, wie alt er womöglich noch geworden wäre, wie viele Jahre er noch …
    »Alles in Ordnung?«
    Die Kassiererin sah mich lächelnd an, und ich nickte ihr zu, nachdem ich es endlich geschafft hatte, mich von der Fotografie loszureißen, die neben dem Eingang hing. Karl H. Mimmer, unser Dorfdichter, 1853 - 1960 stand in goldener Schrift darunter,
der man den Stolz ansah, den Stolz des Bergdorfes auf die einzige herausragende Persönlichkeit, die sein Boden hervorgebracht hatte. Hastig kritzelte ich den Text auf die Rückseite eines alten Busfahrscheines.
    Nach einer eher unruhigen Nacht war ich von den Kirchenglocken regelrecht aus dem Bett geläutet worden. Sie rissen mich aus einem grässlichen Traum, in dem ich nackt mitten unter den Einheimischen in der Gifthütte saß. Sepp drückte mir kichernd ein Gewehr in die Hand, und ich zielte auf Adrian Alt, der absurderweise meine rote Jacke trug und in Raubtiermanier die Zähne fletschte. In dem Moment, als ich abdrückte, war ich schweißgebadet erwacht und hatte die Schläge gezählt, während ich mich im Bett zu meiner morgendlichen Brücke krümmte.
    Ich hatte, kurz vor meinem dreißigsten Geburtstag, eines Abends auf der Couch, aus welchem Grund auch immer, versucht, mich mit Armen und Beinen in diese Position zu stemmen. Kurz gesagt, es war mir nicht gelungen. Wann, um Himmels willen, war mir die Brücke verloren gegangen? Nicht, dass das je ein essenzielles Bedürfnis meines Lebens gewesen wäre oder ich es sehr oft versucht hätte, aber die Tatsache, auf dem Rücken zu liegen, Hände und Füße aufzustützen und das Hinterteil keinen Zentimeter vom Boden hochzukriegen, gab einem das Gefühl von Alter oder das eines zu schweren Hinterns.
    Seitdem arbeitete ich mit verbissener Konsequenz daran, mir die Brücke Millimeter für Millimeter zurückzuerobern. Inzwischen gelang es mir ganz passabel, wodurch ein morgendliches Ritual entstanden war. Ich wollte keinesfalls jemals wieder als zappelnde Vogelspinnenimitation hilflos auf dem Rücken liegen!

    Im Anschluss an dieses Morgensportminiaturprogramm hatte ich geduscht, die notwendigen kosmetischen Verbesserungen durchgeführt, mich angezogen und war zu

Weitere Kostenlose Bücher