Jagdzeit
Cowboystiefeln.«
Ich starrte sie an.
»Blass, dunkle, wirre Haare, graublaue Augen, Hutträger?«
»Ja, genau so einer.«
Ich klopfte unruhig mit dem Fingernagel an den Rand der Teetasse.
»Was wollte er denn mit der Chronik?«
»Keine Ahnung.« Miss Mausezahn schüttelte bedauernd den Kopf, was ihren Pferdeschwanz hin und her schwingen ließ.
»Er wollte das Original, aber das befindet sich irgendwo in einem Safe, weiß der Himmel, wo. Wir haben nur eine Kopie hier. Die hat er durchgeblättert und anschließend behauptet, da fehlten Teile.«
Sie stieß empört Luft durch die Nasenlöcher aus.
»Das ist natürlich Unsinn! Die Seiten sind handschriftlich durchnummeriert, von Mimmer höchstpersönlich, da fehlt kein einziges Blatt, was ich ihm auch gesagt habe. Darauf ist er ohne weiteren Gruß verschwunden. Ziemlich unhöflicher Mensch, wenn Sie mich fragen.«
Ich nickte zustimmend, konnte allerdings eine gewisse Neugierde nicht unterdrücken. Der Schnüffler war also hinter der Chronik her. Aber warum? Welche Rolle spielte Mimmer in diesem immer chaotischer werdenden Puzzle? Fehlende Chronikteile, Geheimverstecke unter Bodendielen, streunende Wölfe, tote Kinder, quicklebendige Greise, verschwundene Köpfe, was kam wohl als Nächstes?
»Gehen Sie zum Gottesdienst?«
Ich sah die Kassiererin befremdet an.
»Gottesdienst?«
»In der Kirche. Heute sind sie bestimmt alle da, weil danach …«
Sie biss sich auf die Lippe und sah mich abwesend an.
»Aber wahrscheinlich sind Sie gar nicht katholisch.«
Ich schüttelte den Kopf, verabschiedete mich von Miss Mausezahn, die ihre Nase sofort wieder in ihrem Krimi vergrub, und trat aus dem Museum hinaus in Mimmers Garten. Die frische Vormittagsluft tat gut nach all dem Staub. Ich atmete tief ein und lächelte zufrieden. Ich wusste genau, was jetzt zu tun war.
2 Weißt du zu erforschen?
Es zwickt in meinem Bauch. Eine Tatsache, die ich nicht mehr länger ignorieren kann. Auch wenn es leichter ist, hier im Himbeergestrüpp mit fest geschlossenen Lidern zusammengerollt liegen zu bleiben, anstatt der stockdunklen Realität in den schwarzen Rachen zu blicken. Die Geräusche an sich sind nicht so schlimm. Seit mich Albträume plagen, habe ich mir angewöhnt, zum Klang von Naturgeräusche-CDs einzuschlafen. Meine Favoriten sind »Laut knisterndes Campingfeuer«, »Meeresbrandung mit Möwen« sowie »Regen auf der Windschutzscheibe«. Zwar hat das die Träume nicht komplett verschwinden lassen, ihnen aber viel von ihrer Bedrohlichkeit genommen. Daher kann ich mir, solange ich die Augen nicht öffne, einbilden, ich läge kuschelig weich und daunenwarm zugedeckt in meinem Bett, LaBelle, meine Katze, neben mir, und probierte einen neuen Soundtrack aus. »Unheimlicher, stockdunkler Wald mit Wolfsgeheul« oder so ähnlich.
Bei diesem Gedanken schlage ich abrupt die Augen auf. Der Wolf! Wie lange habe ich ihn nicht mehr gehört? Wie weit ist es bis zur ersehnten Hütte, und wie soll ich sie in der Finsternis je finden? Wie lange liege ich jetzt überhaupt schon hier?
Lange genug, um dem gesamten Grünzeug in hundert Metern Umkreis deinen Blutgeruch anzuheften. Wie wär’s, wenn du kurz
wieder zur Vernunft kommst und endlich einen extra saugfähigen Tampon ins Rennen schickst?
Ich seufze. Wo sie recht hat, die alte Motzfrau, da hat sie recht. Die leichten Krämpfe in meinen Eingeweiden erinnern mich daran, dass ich als Draufgabe zu der entzückenden Kombination Geflüchtet-aus-dem-Dorf, Verirrt-im-Wald und Gejagt-vom-bösen-Wolf verfrüht meine Tage bekommen habe, was natürlich die derzeitige Situation nicht gerade erleichtert. Zum Glück habe ich immer einen Tampon im Seitenfach …
… MEINER SCHWARZEN UMHÄNGETASCHE, DIE SICH DERZEIT IM ZIMMER EINES KLEINEN, ABGETA-KELTEN DORFWIRTSHAUSES BEFINDET!
Aaaaaaaaaaaaaaaah!
Ich musste ja unbedingt die minimalistische Deko-Tasche ausführen, in der für fast nichts Platz ist! Und wozu einen Tampon einstecken, wenn man jederzeit einen Stock höher auf das gesamte Arsenal an Kosmetikartikeln zurückgreifen kann? Es wird doch schließlich niemand, ich betone, niemand , so idiotisch sein, sich ohne Notfallausrüstung in ein so gut wie unbewohntes Waldgebiet zu begeben, oder? ODER?
Verzweifelt starre ich schwarze Löcher in die schwarze Luft der schwarzen Waldnacht. Leben in der Wildnis für Anfänger. Teil eins: Die Frau in der Wildnis. Kapitel eins: Die Monatsblutung. Ich denke über den Inhalt meines winzigen Reisegepäcks
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