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Jagdzeit

Titel: Jagdzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Toman
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aller Welt, einen Menschen dazu bewog, eine solch absurde Kollektion zusammenzustellen.
    »Ganz schön pervers, oder?«
    Ich zuckte zusammen und drehte mich um. Miss Mausezahn stand hinter mir und sah über meine Schulter auf die Gläser. Ich hatte sie nicht kommen hören. Sie starrte aus ihren himmelblauen Augen auf etwas, das vielleicht einmal ein großer Zeh gewesen sein mochte, jetzt aber ein längliches karamellfarben verfärbtes Etwas war, schüttelte sich demonstrativ und trat schließlich mit verschränkten Armen neben mich.
    »Ich dachte, Sie mögen vielleicht Gesellschaft hier unten. Es ist nicht angenehm, allein mit den Dingen in den Gläsern. Manchmal, wenn ich abends hinter der Putzfrau zusperre, also niemand sonst mehr im Haus ist, bilde ich mir ein, sie bewegen sich da drin. Grässliche Vorstellung!«
    Ich dachte an den Krimi, den sie las, und dass es in der Geschichte um einen perversen Massenmörder ging, der die langen
Haare seiner Opfer als Trophäen behielt und überall in seiner Wohnung verteilte. Kein Wunder, dass in der Dunkelheit die Fantasie mit ihr durchging.
    »Wollen Sie etwas hören, das wirklich gruselig ist?«
    Ich zuckte mit den Schultern. Eigentlich genügte mir die Sammlung völlig, doch die Augen der Kassiererin glänzten vor Begeisterung, also ließ ich sie erzählen.
    »Keiner im Dorf redet gerne vom Tod des alten Mimmer. Sagen Sie bloß niemandem, dass Sie das von mir wissen, ja? Er hatte damals diesen Autounfall gleich hinter der Ortsgrenze, in der Abenddämmerung. Niemand weiß genau, was passiert ist, anscheinend kam er von der Straße ab. Vielleicht ein Reh oder sonst ein Tier? Er hat das Lenkrad verrissen und ist am Waldrand ungebremst in einen Baum gekracht. Peng und aus. Schneller Tod. Aber das wirklich Gruselige ist, dass er vorn durch die Windschutzscheibe geschleudert und sein Kopf dabei fein säuberlich vom Rumpf abgetrennt wurde.«
    Sie hatte ihre Stimme gesenkt und flüsterte nun beinahe. Die Mausezähne waren komplett entblößt, weil sie die Lippen beim Gedanken an das geköpfte Unfallopfer vor Ekel geschürzt hatte.
    »Das kommt vor«, sagte ich, um der Situation den Surrealismus zu nehmen. »Ich habe schon die ärgsten Horrorstorys von Verkehrsunfällen gehört. Vor allem früher, da waren die Karosserien ja noch nicht so stabil, Airbags gab es keine, ABS und Seitenaufprallschutz sowieso nicht. Die Crash-Tests mit Dummys haben diesbezüglich viel …«
    »… verschwunden!«
    Verschwörerisch hatte mir Miss Mausezahn etwas ins Ohr geflüstert, das ich nur zur Hälfte verstanden hatte.
    »Wie bitte?«

    »Der Kopf. Mimmers Kopf. Er ist verschwunden. Niemand hat ihn je gefunden. Am Anfang haben sie vermutet, er sei bis in den Wald geflogen, und ein Wolf habe ihn vielleicht erwischt. Aber sie haben überall gesucht und nicht einmal ein Knöchelchen oder einen klitzekleinen Zahn gefunden. Keine Blutspuren. Gar nichts. Null.«
    Ich starrte sie an. Mein ungläubiger Gesichtsausdruck spiegelte sich in ihren Brillengläsern.
    »Sie haben ihn ohne Kopf beerdigt. Keiner redet groß darüber, aber es ist wahr, das können Sie mir glauben. Es gab damals einige Aufregung, immerhin war Mimmer ja kein Niemand. Zum Begräbnis sind Leute von Außerhalb angereist, Kollegen, Politiker, Presse, ein Riesenzirkus. Denen konnte man natürlich so eine Geschichte nicht erzählen, die hätten sich ja darauf gestürzt wie die Aasgeier. Von wegen der kopflose Dorfdichter. Also hat der damalige Bürgermeister einen Wachskopf anfertigen lassen, nach dem Vorbild des Fotos, das Sie im Eingangsbereich gesehen haben. Hat ihm angeblich wirklich geähnelt. Niemand hat etwas bemerkt, und alle waren total erleichtert, als der Sarg endlich geschlossen und unter der Erde war. Möchten Sie einen Tee?«
    Gerne nahm ich nach so vielen Horrorgeschichten das Angebot an, und kurz darauf standen wir in der kleinen, gemütlichen Teeküche hinter dem Empfangstisch und nippten an einem eher geschmacklosen Gebräu, das sich Kräutertee schimpfte. Das flaue Gefühl in meinem Magen verflüchtigte sich dennoch allmählich.
    »Ich habe gelesen, dass Mimmer eine Ortschronik geschrieben hat. Kann man die hier einsehen?«, fragte ich die Kassiererin ohne großes Interesse, nur um das stockende Gespräch in
Gang zu halten und der unvermeidlichen peinlichen Stille vorzubeugen.
    »Lustig, dass Sie danach fragen. Erst vor Kurzem war ein Fremder hier und hat ziemlich unwirsch danach verlangt. So ein seltsamer Typ in

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