Jagdzeit
verloren!
3 Mondfinsternis
Adrian Alt schloss die Badezimmertür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Das kalte Wasser der Dusche hatte nichts von der Schwere in seinen Gliedern fortgespült. Sein Anblick im Spiegel erschreckte selbst ihn, und so putzte er sich die Zähne lieber im Dunkeln. Es war kurz nach neun am Morgen.
Woran war der Gendarm gestorben? An dieser Frage hing alles, das war ihm klar. Frau rote Jacke wusste etwas, doch sie wollte ja partout nichts sagen. Er starrte düster auf die schmucklose Wand des Wirtshauszimmers, hinter der sie sich verschanzt hatte. Offensichtlich war sie wach, denn er konnte das Geklapper ihrer lächerlichen Stöckelschuhe durch den Rigips der Wirtshauswände hören.
Er hatte in der Nacht wieder von Sarah geträumt. In diesem letzten Traum war er der Lösung so unglaublich nahe gekommen, doch es fehlte ihm der Herzstein. So nannte er beim Puzzlespiel den einen entscheidenden Stein, der alles ins Rollen brachte. Er befand sich immer da, wo das Hauptmotiv des Puzzlebildes begann, am Übergang zwischen Hintergrund und Vordergrund, zwischen Strand und Meer, Gebäude und Himmel. Er enthielt Spuren aller Bildelemente, zum Beispiel ein wenig Sand, ein wenig Wasser und ein winziges Stückchen des roten Sonnenschirms. Hatte man diesen Stein, dann fügten
sich alle anderen wie von selbst zusammen. Doch es war ausgerechnet der Herzstein, den man zunächst nie finden konnte. Man wusste genau, wie er aussehen würde, sah ihn deutlich vor sich, aber sooft man die Teile auch durchsah, so genau man sie betrachtete, man erkannte ihn nicht.
Puzzle zu legen war eines von Adrians wenigen Hobbys. Es entspannte ihn, ermöglichte es seinen Gedanken, sich zu ordnen. Er hatte Puzzles mit dreitausend, viertausend Teilen gelöst, Puzzles von Häusermeeren, von Menschenmengen, sogar von einer grünen Wiese mit einem einzigen roten Ball. Doch dieses hier war mit Abstand das Schwierigste, zumal ihm die Optik des Herzsteines immer wieder entglitt. Die Farben waren verwaschen, wie auf einem alten sepiabraunen Familienfoto, zwar mit deutlichen Konturen, aber mit verschwommenen Details. Zu vielen Details. Wo war das Zentrum der Geschichte, wo war der Punkt, an dem sich die Linien trafen? Das Ding, das alles verband?
Sarah hatte den Herzstein gehabt, das wusste er. Der Gendarm auch, möglicherweise, aber zu ihm drang er noch nicht durch. Dunkelheit umgab ihn. (Blut!)
Etwas an dem Verhalten der Fremden vom Vorabend hatte ihn, zugegebenermaßen, beeindruckt. Hatte er sie unterschätzt? Seine Recherche hatte nicht besonders viel ergeben: Sie kam aus Wien, seine Vermutung, sie könnte aus der Branche sein und für die Gegenseite arbeiten, war falsch. Sie war Schriftstellerin, ihr erster Roman, irgendetwas mit Hexen im Titel, würde demnächst erscheinen. Ihr Name war Olivia M. Kenning, Alter: dreißig, Familienstand: ledig, keine Geschwister, keine auffällige Familiengeschichte, keine Vorstrafen. Ob sie auf Materialsuche war? Das hieß natürlich, dass sie etwas herausgefunden
haben könnte, etwas, das ihm entgangen war. Der Gendarm? Sie hatte sein Grab auf dem Friedhof besucht, das war verdächtig. War sie hinter einer Story über den Gendarmen her? Wollte sie sich womöglich mit einem Informanten treffen? Würde sie mit dem Unterberger sprechen? Wie viel wusste sie bereits? War sie Mimmer auf der Spur? Sie befand sich auf gefährlichem Terrain, ob ihr das klar war? Adrian dachte schaudernd an den Raum im Obergeschoss, in den ihn der Unterberger geführt hatte, um ihm seine Sammlung zu zeigen. Und was für eine Sammlung!
Der Raum hatte sich genau über dem Wohnzimmer befunden. Er war vom Grundriss her ziemlich groß, davon spürte man jedoch nichts, da er bis unter die Decke mit Käfigen gefüllt war. Hundert oder mehr Vogelkäfige, übereinandergestapelt wie Bierkisten. Fast jeder Käfig war besetzt, doch weder mit Sittichen noch mit Kanarienvögeln.
»Was sagen Sie?«
»Sehr … beeindruckend.«
Adrian hielt es für klüger, erst einmal Interesse zu zeigen.
»Haben Sie die alle selbst gefangen?«
»Jeden davon!«
Stolz machte der Unterberger eine Handbewegung, die das ganze Ausmaß seiner Jagdkünste umfassen sollte. Und die waren tatsächlich erstaunlich. Denn in den Käfigen saßen, jede allein und jede mit dem gleichen starren Ausdruck in den dunklen Knopfaugen, Eulen. Dutzendweise Eulen.
»Käuze«, sagte der Unterberger, als hätte er Adrians Gedanken gelesen. »Strix Aluco, um genau
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