Jagdzeit
die Hexe nach einer ganzen Weile meine Hand loslässt, öffne ich sie und starre sie überrascht an. Sie ist leer. Das Holzstäbchen ist verschwunden, dafür sind die feinen Linien der Rune deutlich erkennbar in meinen Handteller gebrannt. Ich streiche vorsichtig mit den Fingern der linken Hand darüber. Alles kühl und glatt wie alte Narben, der Unterschied zur restlichen Haut ist kaum spürbar. Ich sehe die Hexe fragend an.
»Du trägst die Rune in dir, weil sie immer schon zu dir gehört hat. Sie wird Ansuz genannt. Du kennst sie schon lange. Das ist es wohl, was die Menschen Hexenkunst nennen, glaube ich, obwohl ich nicht genau verstehe, was sie damit meinen. Jetzt trink noch einen Schluck Met, und wärm dich am Feuer!«
Gehorsam trinke ich von der immer noch erstaunlich heißen Flüssigkeit in meinem Becher. Sofort spüre ich wieder die Wirkung des Alkohols. Na toll. Ein paar Schlückchen, und ich bin betrunken! Das ist keineswegs normal, denn ich vertrage viel. Das haben diverse Gelage mit Sorina bewiesen.
Allerdings nur, wenn du etwas gegessen hast.
Guter Einwand! Auf nüchternen Magen wirkt das Zeug natürlich wie eine Bombe. Zudem ist Vollmond, und ich habe meine Tage. Ach du meine Güte, das habe ich ja völlig vergessen! Womit das Ende meines grandiosen testamentarischen Schriftstückes wohl endgültig besiegelt wäre.
»Äh, Frau Wurd, darf ich Sie um etwas bitten? Erstens: Es ist mir furchtbar unangenehm, aber ich habe gerade meine Tage bekommen und bin leider ohne geeignete Ausrüstung losgezogen. Hätten Sie vielleicht einen Tampon oder eine Slipeinlage für mich? Notfalls auch eine größere Menge besonders saugfähiges
Küchenpapier, Hauptsache, äh, es saugt. Und außerdem befürchte ich, dass ich gleich ziemlich alkoholisiert bin, wenn ich auf nüchternen Magen so viel trinke.«
»Entschuldige, mein Kind, ich war in Gedanken. Warte hier, ich hole, was du brauchst, es dauert nur ein paar Minuten. Etwas zu essen bringe ich dir auch. Du darfst dich solange gerne in allen Ecken meines Hauses umsehen. Hüte dich nur vor der Tür zwischen den Wurzeln!«
Sie dreht sich Richtung Küche. Ich kann meine angeborene Neugier wieder einmal nicht bezwingen und platze heraus.
»Wieso? Was ist denn dahinter?«
Frau Wurd hält mitten in der Bewegung inne. Ihr Körper zittert, sie schüttelt sich, hebt und senkt die Arme und würgt schließlich einen unförmigen Klumpen hervor, der knirschend auf den Boden fällt. Ich denke an den Waldkauz und weiche einen Schritt zurück. Fast erwarte ich die Verwandlung, doch die Hexe bleibt in ihrer menschlichen Gestalt, lediglich ihre Augen funkeln wie Diamanten, und ihre Stimme klingt hart, als sie die sonderbarsten Worte des Tages zischt: »Hüte dich, Wanderer, vor der neunten Nacht! Teuer bezahlst du das Wissen, das du erkaufst. Steht erst der Vollmond am Himmel, folgst du der roten Spur. Durch Eis, Feuer, Wasser und Dunkelheit. Töten musst du denjenigen, der deine Wunde teilt. Dafür kennst Antwort du auf alle Fragen bis auf eine, wehe dem, der sie zu stellen wagt.«
Sie verharrt bewegungslos. Ihr Mund ist leicht geöffnet und offenbart extrem weiße, glänzende Zähne, die an Perlmutt erinnern. Hexengebiss. Kaum traue ich mich zu sprechen.
»Ist, äh, alles in Ordnung?«
Das Funkeln verschwindet und mit ihm die magische Bedrohlichkeit.
Vor mir steht wieder eine einfache alte Frau mit krummer Hakennase und Falten über Falten. Aber die andere war da, das weiß ich mit Sicherheit!
»Mein Kind, manche Dinge erforscht man besser nicht. Denke an die Runen und hüte dich vor deinen Schwächen. Wenn man zu tief gräbt, kann einen das alles Mögliche kosten. Sehen ist sowohl gut als auch gefährlich. Warte hier. Ich bin gleich zurück.«
Sie verschwindet in der Küche. Verblüfft starre ich ihr nach. Ich habe keine Ahnung, was gerade passiert ist. Doch eines weiß ich hundertprozentig, nämlich, wohin ich mich wenden muss, wenn ich dieses Rätsel lösen will. Es gibt keinen anderen Weg.
Ich warne dich! Ich weiß genau, was du vorhast! Tu! Es! Nicht! Hörst du mir überhaupt zu? Verdammt! Nimm die Hand da weg! Lass das bleiben! Olivia! OLIVIA!
»Halt den Mund, Motzmarie!«, nuschle ich durch zusammengepresste Lippen, sehe ein letztes Mal wachsam über meine Schulter Richtung Küche, treffe eine Entscheidung und öffne die Baumstammtür. Ein Blick in den Raum dahinter genügt, um mir das Blut in den Adern gefrieren zu lassen. Motzmarie hat längst das Bewusstsein
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