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Jagdzeit

Titel: Jagdzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Toman
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den berühmten weiblichen Paranoiastellen und, vor allem, wie wirkte sie auf andere? Das schienen die weltbewegenden Fragen zu sein, die eine immense Bedeutung für sie hatten. Sie war unsicher, regelrecht verkrampft, neigte aber dazu, das mit allzu lässigen Gesten zu überspielen, die sie sich von diversen Filmschauspielerinnen abgeschaut hatte.
    Sie hätte Marilyn studieren sollen, dachte er, und nicht Meg Ryan oder die unsägliche Renée Zellweger, dann wäre die Wirkung zweifellos faszinierend. Denn die weiblichen Formen, die sie beständig zu verstecken suchte, waren durchaus ansprechend, die Gesichtszüge attraktiv, das Muttermal neben der Nase sogar ziemlich anziehend. Wenn sie zwischendurch kurz
vergaß, ihre Stirn in Falten zu legen und böse Blicke abzufeuern, dann lag in ihren Augen etwas unbeschreiblich Kindliches.
    Er griff nach seinem Notizbuch und blätterte zu ihrem Porträt vom ersten Abend zurück. Es war ihm gelungen, diesen erstaunten Ausdruck einzufangen, als sie dem verrückten Sepp zugehört hatte. Unwillkürlich musste er grinsen. Er hatte schon viele Gesichter gezeichnet. Früher, in der Zeit, die er zu vergessen beschlossen hatte, hatte er auf dem Stephansplatz für ein bescheidenes Honorar und mit wenigen Bleistiftstrichen Passanten karikiert. Die Essenz des individuellen Ausdruckes, so hatte er festgestellt, lag in den Knochen. Auf die Form kam es an, auf den gekonnten Linienstrich. So hatte er Gesichter studiert wie andere Lehrbücher, doch dieses Nebeneinander von Stolz und Sehnsucht, das in den Winkeln ihrer Lippen wohnte, das war ihm selten begegnet.
    Er hatte das Gefühl, dass Olivia Kenning ihm den Herzstein liefern konnte, den endgültigen Beweis, der alles verband und seine Auftraggeberin zufriedenstellen würde. Er musste in ihrem Zimmer danach suchen. Die Tür war kein Problem, er war ja inzwischen Meister der Schlosserkunst, das brachte der Beruf so mit sich. Schwieriger war die Frage, wonach er suchen sollte. Und nicht zu vergessen die, wie viel Zeit er hatte.
    Sie war nicht zurückgekommen, bisher jedenfalls, das Schuhgeklapper wäre ja auf der alten Holztreppe kaum zu überhören gewesen. Doch wo blieb sie so lange? War sie in den Ort gegangen? War sie vielleicht sogar abgereist? Hatte sie das Ding mitgenommen? Bei diesem Gedanken stockte ihm das Blut. Womöglich musste er sie aufhalten, notfalls mit Gewalt. Es ging schließlich um Sarah. Um seinen Auftrag.
    Und wenn ihr im Ort etwas passiert war?

    Sie war zu laut, zu auffällig, kaum vorstellbar, dass man ihr nicht auflauerte, zumal sie sich um seine Ratschläge (seine Warnungen!) ja nicht scherte. Es war durchaus möglich, dass man sie bereits erwischt hatte. Eine wie sie würde Gefahr nicht einmal dann erkennen, wenn diese mit einer »Achtung!«-Tafel um den Hals im Pfauenkostüm vor ihr Samba tanzte.
    Na und? Was kümmerte ihn das? Es ebnete ihm ja nur den Weg, also los! Er steckte das Notizbuch in die Jacketttasche, schlüpfte rasch in seine Stiefel, griff nach dem Hut und hielt mitten in der Bewegung inne. Er zögerte. Lange. Sehr lange.
    Es konnte ihn die einzige Chance kosten, die er hatte, wenn er sich schon wieder an ihre Fersen heftete. Hatte sie ihm nicht deutlich klargemacht, dass sie auf sich selbst aufpassen konnte? Nun, bitte, er war, verdammt noch mal, nicht ihr Wachhund.
    Der Herzstein, der Herzstein, den musste er finden.
    Die Kirchenglocken läuteten. Neun Uhr. Er hatte seine Entscheidung getroffen. Rasch und lautlos schlüpfte er aus seinem Zimmer.

4 Das Monster knurrt!
    Ich starrte mit klopfendem Herzen auf den blinkenden Cursor am Ende der letzten Zeile, die ich in klassischer Courier-Schrift in mein MacBook gehämmert hatte, als handelte es sich dabei um eine dieser alten, mechanischen Kofferreiseschreibmaschinen, wie mein Vater sie besaß, ehe das Computerzeitalter und der Siegeszug der Laptops begonnen hatten. Ich las den letzten Satz wieder und wieder, ohne den tieferen Sinn zu verstehen.
    Das Monster knurrt zufrieden.
    Nach dem wohl verrücktesten Vormittag meines Lebens war ich ins Wirtshaus zurückgekehrt und hatte es erneut mit dem Schreiben versucht. Ich bemühte mich, aus all meinen bisherigen Notizen (inzwischen ein ganzer Berg) zusammenhängende Gedanken zu formen. Ich musste mich zwingen! Kein gutes Zeichen. Immerhin habe ich einmal einen Pakt mit mir selbst geschlossen, einen Pakt, der Regelmäßigkeit und Konsequenz beinhaltet, da sollte mich doch so eine lächerliche Schreibblockade

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