Jagdzeit
abwesend. Etwas sticht mich, erst im Nacken, dann an den Schulterblättern und schließlich überall. Was geschieht mit mir? Ich stöhne vor Schmerz und krümme mich, als könnte ich so die unsichtbaren Stiche abwehren. Es ist, als würde ich mich durch eine Dornenhecke kämpfen oder als bekäme ich eine quälende Ganzkörperakupunktur mit viel zu dicken Nadeln. Ich beiße mir auf die Lippen, kurz davor, laut zu schreien. Diese Schmerzen!
»Wenn du Angst vor Veränderungen hast, dann ziehst du nur Zerstörung an. Lässt du sie zu, ist alles offen, kann sich zum Guten oder zum Schlechten wenden. Doch die Krise liegt nun hinter dir, Urd hat gesehen, nun lassen wir Werdandi sprechen.«
Das Stechen hört von einer Sekunde auf die andere auf. Ich starre die Hexe an. Sie lächelt, ohne jedoch ihre in die Ferne gerichteten Augen mir zuzuwenden.
»Die zweite Rune!«
»Muss das sein?« Ich will aufstehen, weglaufen, fort, nur fort!
»Ja! Zieh!« Frau Wurd deutet mit einem langen, dünnen Zeigefinger auf die Runen. Meine Beine sind wie festgefroren, keine Möglichkeit zu entkommen. Gefangen!
Ich studiere neuerlich den Haufen Holzstäbe. Diesmal bleibt mein Blick an einem Zeichen hängen, das an zwei einander zugewandte Dreiecke erinnert, die sich an den Spitzen berühren. Ich strecke die Hand danach aus, halte jedoch inne und sehe Frau Wurd verunsichert an.
»Ist das nicht alles irgendwie zufällig?«
Sie schüttelt leicht den Kopf.
»Es gibt keine Zufälle. Gib mir den Stab, es ist der richtige.« Ich reiche ihr zögernd das Holzstück, und sie betrachtet es ausgiebig, streicht mit der Hand sanft über seine raue Oberfläche und umschließt es dann mit allen zehn knochigen Fingern wie etwas sehr Kostbares. Ich wappne mich gegen neuerliches Stechen, doch es passiert etwas ganz anderes. Ich wische mir mit der Hand über die Stirn. Sie ist feucht. Ich schwitze. Innerhalb von Sekunden sind meine Kleider klatschnass, die Luft ist zu dick, um normal atmen zu können. Ich bekomme kaum Luft, alles um mich flimmert. Es ist plötzlich tropisch heiß in der winzigen Hütte, das brennende Feuer versengt mich wie die ärgste Hochsommersonne, und meine Haut glüht.
»Schluss! Aus!«, rufe ich verzweifelt, meine tränenden Augen notdürftig gegen die Hitze abschirmend. Es müssen hundert Grad sein!
»Ja, Zeit zum Aufwachen!«, verkündet Frau Wurd. »Diese Rune nennt sich Dagaz oder Tag und ist die Rune des Wechsels, des Lichtes, der Erkenntnis, aber auch der Wechselwirkung zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein.«
Ich keuche, es ist unerträglich, es verbrennt mich, es …
»Du bist an einem Punkt, wo dir ein großes Erwachen bevorsteht. Ein Neuanfang. Du bist auf der Suche, du willst deine Ideale und Träume verwirklichen. Aber sei wachsam! Das Licht scheint dort, wo man am wenigsten damit rechnet. Hüte dich vor der Blindheit! Das sagt dir Werdandi, nun greif zur nächsten Rune! Sie wird am schwierigsten zu deuten sein, denn was sie rät, das ist noch nicht entschieden. Skuld sieht weit voraus.«
Die Hitze vergeht, wie sie gekommen ist. Nur an meiner durchgeschwitzten Kleidung merke ich, dass es keine Einbildung war. Etwas passiert in dieser Hütte, etwas ganz und gar Magisches! Das ist zugleich beängstigend und faszinierend. Ich bin ja eigentlich ein unesoterisch veranlagter Mensch. Ich habe mich noch nie mit der Kunst des Tarot befasst, habe mir kein einziges Mal aus der Hand lesen lassen oder mit einer Wahrsagerin in eine Kristallkugel geglotzt. Dennoch faszinieren mich die Gedankengänge von Frau Wurd sowie die Erkenntnisse, zu denen sie kommt. Enttäuschungen, Suche, Unterbewusstsein, das ist tatsächlich ein ganz guter Abriss meiner vergangenen Lebensjahre. Aber will ich wirklich wissen, was vor mir liegt? Kann ich noch mehr Schmerzen ertragen, mehr Einsichten? Wäre es nicht sinnvoller, an dieser Stelle nach der Quelle zu fragen, damit ich rasch an mein Ziel komme? Diese ganze Runengeschichte überfordert mich.
Aber was, wenn dieses Ritual bereits Teil deines Weges zur Quelle
ist? Sind nicht die Stäbe aus den Wurzeln geschnitzt? Und heißt nicht das Motto des Tages: Folge den Wurzeln?
Das war eindeutig nicht Motzmarie, sondern ein ganz neuer Teil von mir, ein Teil, der nach vorn blicken will. Ohne weiter zu zögern, ziehe ich ein sehr kleines, eher verkrüppeltes Holzstäbchen aus dem Chaos heraus. Das Zeichen darauf sieht wie ein kleines »n« aus, relativ unspektakulär, doch ich bin mir absolut sicher,
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