Jagdzeit
Sinn ist, sondern vielmehr ein kunstvolles Muster kleinerer und größerer Baumwurzeln, die ein wenig an lebendige, sich windende Schlangen erinnern. Oder an Knochen. Das Zimmer ist im Übrigen rund. Rund wie der Baumstamm, in dem es sich befindet. Aber wie kann so ein immens hoher Baum innen hohl sein?
Ich blicke nach oben. Ja, eindeutig, ein hohler Baum. Mehrere Hundert Meter hoch streckt sich der Stamm Richtung Himmel, und ganz am Ende erkenne ich den Himmelskörper, der, wie zum Spott, zu mir hereinblinzelt.
»Vollmond«, flüstert eine raue Stimme von der gegenüberliegenden Seite des Raumes.
Es ist der Wolf. Ich habe ihn sofort erkannt, obwohl er zusammengekauert zwischen zwei großen Wurzeln liegt. Doch das Narbengewebe dort, wo sein rechtes Auge sein sollte, ist deutlich erkennbar, zumal sein linkes, sonderbar blaugraues Auge einen Spalt offen steht. Mein Herz setzt kurz aus, als durch die dumpfe Angsttaubheit ein eigentümliches Geräusch an mein Ohr dringt: der seltsam flache, röchelnde Atem des Tieres. Er hat sich nicht gerührt, seit ich den Raum betreten habe, nur seine Flanke hebt und senkt sich rhythmisch. Ob er schläft und nur im Traum gesprochen hat? Das wäre womöglich meine Chance, den Rückzug anzutreten, ohne angefallen und zerfleischt in dieser Waldhütte mein blutiges Ende zu finden.
Vorsichtig greife ich hinter mir nach dem Knauf, ohne den Wolf aus den Augen zu lassen. Erst als ich nichts anderes als Holz spüre, drehe ich mich um und starre fassungslos auf die Stelle, wo die Tür sein müsste. Kein Türknauf. Nicht einmal eine Ritze oder ein verräterischer Balken.
Motzmarie? Ich horche tief in mich hinein, doch da herrscht absolute Totenstille. Die mir so vertraute Stimme ist einfach verschwunden wie die Tür. Ob der Anblick des Wolfes ihr den Rest gegeben hat? Verständlich. Panisch taste ich mich an der Baumwand entlang. Eine Falle, denke ich, während die Hysterie dafür sorgt, dass mein Blutdruck rasant ansteigt. Kein Fluchtweg. Kein …
»Du hast die letzte Frage nicht beantwortet, Olivia.«
»I-ich weiß, aber es war so … so … verwirrend, und da waren Schüsse im Wald. Ich bin gelaufen, glaube ich, und habe mich verirrt.«
Der Wolf knurrt. Geifer tropft ihm aus dem Maul, im Mondlicht glänzt die Flüssigkeit silbrig.
»Du hast dich nicht an die Regeln gehalten. Weißt du, was das bedeutet?«
»Gagnrad!« Schweiß rinnt an meinen Schläfen herab, doch es ist nicht der Schweiß, den der Wolf vermutlich riecht, als er die Nüstern bläht. »Gagnrad, bitte, ich …«
Er saugt die Luft tief ein, als forsche er nach all ihren chemischen Bestandteilen.
»Du blutest!«
Mir wird übel. Ich hätte doch lieber auf Frau Wurds Tampon warten sollen. Jetzt ist es zu spät.
»N-n-nein, es ist nichts, n-n-nur Monatsblutung.«
»Keine Wunde?«, fragt er lauter als nötig.
»Was für eine Wunde?«
Der Wolf erhebt sich schweigend und kommt auf mich zu. O mein Gott, jetzt wird es langsam Zeit für die High-Definition-Dolby-Surround-Vorführung meiner wichtigsten Lebensstationen. Von mir aus können wir aber mit dem Schulabschluss anfangen. Ich war kein schönes Kind und ein besonders hässliches Baby.
»Ich will dir verraten«, sagt Gagnrad leise, während er immer näher kommt, »was es ist, das sich hinter der Tür verbirgt, die aus dem Holz des Baumes ist, dem man nicht ansieht, aus welcher Wurzel er spross.«
Er ist nahe genug, dass ich seinen Atem an den Unterarmen spüren kann.
»Der T-T-T-tod?«
»Falsch, Olivia.« Der Wolf bleibt etwa einen halben Meter von mir entfernt stehen. »Es ist der Zugang zum sehnlichsten
Wunsch unseres Herzens. Drei Fragen habe ich dir gestellt, nur zwei hast du beantwortet. Dein Leben gehört von jetzt an mir. Doch ich gebe dir eine letzte Chance. Den Zugang findet nur, wer seinen Herzenswunsch kennt. Darum will ich zum Letzten von dir wissen, welches ist die größte Sehnsucht, die dich hierhergebracht hat?«
Ich starre ihn an. Ein einzelner Mondstrahl, der von irgendwo durch die Baumdecke dringt, teilt sein Gesicht für einen Moment in eine helle und eine dunkle Hälfte. Doch etwas anderes zieht meine Aufmerksamkeit auf sich: An seiner Schulter ist das Fell feucht und struppig, in den Haaren klebt Blut. Der Wolf ist verletzt!
»Was ist …?«
Er fletscht die Zähne und kräuselt seine Schnauze. »Ich bin an der Reihe, Fragen zu stellen! Du solltest antworten, wenn dir dein Blut und dein Leben lieb sind.«
»Aber du …«
Er zieht die
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