Jagdzeit
dass sich der Zugang in diesem Raum befindet, gut getarnt oder versteckt, so wie die Tür von hier zurück zum Hexenhaus.
»Olivia?«
Der Wolf blickt mich an, seine Ohren sind aufgestellt.
»Ja?«
»Deine zweite Frage.«
Ich zögere nicht lange.
»Warum hast du so eine große Schnauze?«
»Wieder intelligent gefragt. Das Ohr ist gut, doch weißt du, welcher Sinn dem Wolf am besten dient? Erkenne selbst, damit du ganz begreifst.«
Diesmal ist es anders als vorher. Das Gefühl setzt nicht plötzlich ein, sondern nach und nach. Zuerst rieche ich die trockene, alte Rinde, die mich umgibt. Dann das Harz, das wie goldener Eiter aus den Ritzen quillt. Waldblut. Dazu kommt der zarte Duft der saftigen Blätter, die in der kühlen Nachtluft frisch sprießen. Getrockneter Vogelkot dominiert das Aroma der Zweige, die wie Arme aus dem Baum wachsen. Ich rieche auch das Moos, das noch an meinen Schuhen klebt, die Erdbrocken an meiner Kleidung und die süßen Himbeerreste unter meinen Nägeln. Doch viel präsenter ist der metallische Geruch des Blutes im Wolfsfell. Mir wird bewusst, wie nahe das verletzte Tier mir ist.
Ich denke daran, wie ich zum ersten Mal im Zoo nur durch eine Glasscheibe von einem Leoparden getrennt war. Zehn Zentimeter transparentes Panzerglas zwischen Leben und Tod. Ich konnte die Poren auf der Raubkatzenzunge erkennen, dunkle und helle Haare deutlich das Muster bilden sehen und bei jedem Schritt die Bewegungen der Muskeln unter seinem Fell wahrnehmen. Hier am Ende der realen Welt gibt es kein Panzerglas, hier hängt der Geruch der Wildnis schon in meinen Kleidern.
Ich starre den Wolf an, der sein einzelnes Auge unverwandt auf mich gerichtet hat. Mir wird eigenartig zumute, ich kann das Blut in meinen Ohren rauschen hören, das Bild verschwimmt in einem diffusen Nebel, aber das ist lange nicht alles. Denn in gleichmäßigem Rhythmus, völlig im Takt mit dem des Tieres neben mir, schlägt mein Herz ungewohnt weich, fast so, als wäre es kein nackter Muskel, sondern mit flauschigem Fell bewachsen.
Ich schließe endlich meine Augen. Des wichtigsten, vertrautesten Sinnes beraubt, verlasse ich mich gänzlich auf meine Nase. Da ist noch etwas, tief unter dem Holz-, dem Harz- und dem Blutaroma. Die würzige Note kenne ich, das ist ein Kaminfeuer, unmittelbar nachdem die Flamme erloschen ist. Der feine Rauch, der von schwarzem Holz aufsteigt und nach Wärme riecht, vorausgesetzt, Wärme hätte einen Geruch. Doch da ist mehr, mehr. Der Rauch zieht durch den Schornstein hinaus in einen kalten, windstillen Regentag. Beides, Feuchtigkeit und Wärme, verbinden sich zu einem Dampf, um sich in den Zweigen einer hohen, schlanken Birke zu verlieren, die gerade angefangen hat zu blühen.
Der Duft lässt mich wanken. Jeder trägt so eine Sehnsucht in sich, und ohne dass man sich dessen bewusst ist, hat die
Sehnsucht einen Geruch. Exakt in jenem Moment, wo man einen Hauch davon einatmet, ist es, als käme man nach einem halben Menschenleben zurück in das Haus, wo man aufgewachsen ist. Selbst wenn die Möbel anders stehen oder die Wände neu gestrichen sind, trägt man das frühere Bild in sich. Beide, alt und neu, Vorstellung und Realität, Sehnsucht und Duft, passen vollständig ineinander, und irgendwo im Brustkorb fängt etwas zu schmelzen an.
Ehe ich mich komplett in diesem Strom verlieren kann, erreicht mich ein süßlich-würziger Hauch, der zwischen den Wurzeln wie bernsteinfarbener Dampf aufzusteigen scheint. Folge den Wurzeln! Folge den Wurzeln! Das ist es! Ich weiß ganz plötzlich, welcher Weg zur Quelle führt, und diese Erkenntnis verdanke ich einzig meiner …
Erschrocken greife ich mit der Hand in mein Gesicht. Gott sei Dank! Ich ertaste die gewohnte Form meiner Nase. Für einen winzig kleinen Moment war ich mir sicher, Fell und Lefzen vorzufinden. Ich reiße die Augen auf und starre den Wolf an, der unbeweglich vor mir hockt und eine Weile schweigt, ehe er etwas sagt.
»Die Dinge sind vielfältiger, wenn man die Perspektive wechselt.«
Langsam lässt das Gefühl nach. Das Innere des Baumstamms riecht wieder holzig-muffig wie zuvor, der Zauber ist vorbei.
»Menschensinne«, erklärt der Wolf, »sind eindimensional. Um dein Ziel zu erreichen, um gute Geschichten zu erzählen, musst du lernen, dich in andere Dimensionen zu begeben. Die Perspektive wechseln.«
»Das mag schon sein«, sage ich vorsichtig, während ich mit
den Händen den Wurzelboden unter mir betaste, »doch es gibt da noch eine
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