Jagdzeit
Frage, die ich gerne beantwortet hätte.«
Ich weiß, dass meine einzige Chance, zu entkommen, darin besteht, den Zugang zu finden, ehe das Frage-Antwort-Spiel beendet ist und der Wolf, nachdem er zur Genüge mit seiner Beute gespielt hat, mich mit seinen scharfen Zähnen zerfleischt. Es kann ja sein, dass er Zauberkräfte hat, doch dafür habe ich ein Ziel. Das Problem ist nur, dass ich im blassen Mondlicht nichts erkennen kann, die Wurzeln bilden ein diffuses Geflecht, in dem für mich keine Lücke durchblitzt. Doch ich habe einen Plan: Mit Sicherheit hat das Wolfsauge den weit besseren Durchblick, womöglich ist es sogar eine Art magisches Auge, mit dem man alle verborgenen Wege sieht. Daher bleibt eigentlich nur eine logische Frage, deren Beantwortung mir hoffentlich offenbaren wird, was ich so verzweifelt suche.
»Warum hast du nur ein Auge?«
Was nun passiert, jagt mir einen solchen Schrecken ein, dass ich jede Bewegung und jedes Geräusch wie in Zeitlupe erlebe. Der Wolf schüttelt wild seinen mächtigen Kopf, sträubt das Fell, spannt den Nacken an, fletscht die Lefzen, sodass Speichel auf den Boden tropft, und knurrt mich aus tiefster Kehle an. Ich weiche vor ihm zurück, immer wieder über die Bodenwurzeln stolpernd. Kommt mir das nur so vor, oder ist der Wolf gewachsen? Er wirkt riesig, die kräftigen Muskeln zeichnen sich unter dem Fell ab, die Krallen kratzen widerlich an der harten Rinde, und ich weiß, diesmal ist es vorbei. Das war alles nur Show, um mich einzulullen, all die Fragerei, die magische Sinnesvorstellung. Jetzt zeigt das Raubtier sein wahres Gesicht, und dieses lechzt nach Menschenfleisch.
»Du hast doch gesagt, dass ich dich alles fragen darf, außerdem … aaaaaaaahhhhhh!«
Mit einem Satz springt der Wolf auf mich zu. Ich bin mittlerweile vielleicht drei, vier Meter von ihm entfernt, doch ich weiß sofort, dass ich keine Chance habe, weil nur wenige Schritte hinter mir die Baumstammwand aufragt. Ich sehe es deutlich vor mir: Mit seinen Fangzähnen wird er mir die Kehle durchbeißen und später, nach der üppigen Hauptmahlzeit, die Knochen zermalmen, um zum Dessert an mein Knochenmark zu gelangen. Das hat man nun davon, wenn man mit Raubtieren handelt!
Doch nichts davon passiert. Bevor ich realisiere, was vor sich geht, schlage ich beim verzweifelten Versuch, dem springenden Tier auszuweichen, auf dem Boden zwischen zwei großen Wurzeln auf. Die Wurzeln bewegen sich, winden sich umeinander wie gigantische Kobras, und ehe ich noch vor Entsetzen brüllen kann, gibt der lebendige Boden plötzlich nach, und ich falle, die Arme schützend um meinen Kopf geschlungen, mehrere Meter in die Tiefe.
6 Mondlicht
»Man sagt, dass die Wölfe in unseren Breiten ausgestorben sind. Glauben Sie das, Herr Alt?«
Adrian, der immer noch ärgerlich in die Richtung blickte, in die Olivia Kenning in einer Staubwolke verschwunden war, drehte sich um und fand sich fast Nase an Nase mit dem Unterberger. Dieser trug eine alte, mottenzerfressene Pelzhaube mit Ohrenflügeln auf dem Kopf, eine Lesebrille mit dickem rotem Rand auf der Nase, war in einen alten, abgewetzten Overall im Militärlook gekleidet und hatte einen leeren Vogelkäfig auf den Rücken geschnallt. Adrian begriff.
»Ich denke, ausgerottet worden ist die bessere Bezeichnung, Herr Unterberger. Und apropos, sind Sie wieder in geheimer Kauzmission unterwegs?«
Die Versammlung auf dem Sportplatz hatte sich rasch aufgelöst, zurück blieb ein trostloser Ort, umgeben von einem löchrigen Bretterzaun.
»Schon möglich.« Der Unterberger grinste. »Aber in erster Linie wollte ich die Rede nicht verpassen. Gute Rede, sehr gute Rede, das muss man sagen.«
»Waren Sie bei der Versammlung? Ich habe Sie gar nicht gesehen.«
»Nein, nein. Ich habe von da drüben aus zugehört. Vom Waldrand. Ich zähle nicht zur schützenswerten Dorfgemeinschaft,
Herr Alt. Wenn überhaupt, bin ich der Fuchs, den man auf der Wolfsjagd versehentlich gleich mit erlegt. Aber ich bin auf der Hut.«
Er betrachtete Adrian aus wachen Augen.
»Kann es sein, dass Sie nicht genug schlafen? Sie sehen ziemlich mitgenommen aus.«
Adrian fuhr sich mit der Hand über das stoppelige Kinn. Wann hatte er sich zuletzt rasiert? Kein Wunder, dass die Schriftstellerin bei seinem Anblick das Weite suchte.
»Ist das der Grund, warum Sie den sicheren Waldrand verlassen haben? Aus Mitleid mit einem Fremden?«
»Eigentlich nicht.« Der Unterberger senkte die Stimme. »Jetzt hören Sie mir
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