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Jagdzeit

Titel: Jagdzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Toman
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waren Schritte und Stimmengewirr zu hören, die Türen öffneten sich, und die Menschen zogen geschlossen an uns vorbei. Kein einziger Blick streifte uns, beide waren wir unsichtbar für die Einheimischen. Ich entdeckte Sepp und Therese, doch auch sie starrten stur auf die Rücken der vor ihnen Gehenden. Der glupschäugige Förster war ebenfalls dabei und fast alle Stammgäste aus der Gifthütte. Keiner sah sich nach uns um. Es wirkte nicht so, als kehrten sie in ihre Häuser zurück, das Ganze hatte mehr den Anschein einer Prozession, weshalb ich dem Zug in einem gewissen Abstand folgte, als die Letzten, Pfarrer und Organist, in ein eher einseitiges Gespräch vertieft, durchs Kirchentor getreten waren. Ich brauchte mich nicht umzusehen, um zu wissen, dass der Schnüffler sich ebenfalls in Bewegung gesetzt hatte.
    Ein Leichenzug ohne Sarg. Gespenstisch! Fast bis zur Hauptstraße waren die Einheimischen marschiert. Ihr Ziel war der
am Dorfrand liegende Sportplatz, der seinen Namen wohl nur den zwei windschiefen Fußballtoren verdankte, die an beiden Enden der braunen Rasenfläche netzlos vor sich hin rosteten. Mit Gras überwachsene, dreckverkrustete Bälle fast ohne Luft lagen hier und da im Gebüsch, genauso wie einige leere Dosen, die von einer Dorfjugend erzählten, die allerdings weit und breit nicht zu sehen war. In der Mitte der Wiese war ein Rednerpult aufgestellt worden, um das sich die schweigende Gemeinde nun versammelte. Ich wagte nicht, ihnen zu folgen, auch wenn sie mich möglicherweise nicht daran gehindert hätten, unsichtbar, wie ich für sie war. Stattdessen blieb ich in Sicht- und Hörweite und setzte mich auf den wackeligen Bretterzaun, der das Sportfeld begrenzte. Ein paar Meter entfernt lehnte sich der Schnüffler an den Zaun, was mich fast aus dem Gleichgewicht brachte. Böse schaute ich in seine Richtung, doch er war völlig auf das Geschehen auf dem Rasen fixiert.
    Ein paar Minuten vergingen, bis alle ihren Platz gefunden hatten, dann trat ein kräftiger Mann mittleren Alters mit erstaunlichem Haarwuchs (oder war das ein Toupet?) an das Rednerpult, räusperte sich und begann mit lauter, klarer Stimme zu den Menschen von W. zu sprechen. Der Selbstverständlichkeit, mit der er diese Rolle ausfüllte, entnahm ich, dass das der Bürgermeister sein musste. Rein optisch hätte er auch der Besitzer eines Fitnessstudios, Bergführer oder Sportlehrer sein können. Zumindest vermittelte er nicht den Eindruck eines Kopfmenschen, wie man sie sonst in der Politik vermutete. Doch was er sagte, sagte er mit klarer Autorität, die keinen Zweifel daran ließ, dass er im Dorf eine wichtige Position innehatte.
    »Es ist so weit, liebe Mitbürger. Wieder einmal werden wir von außen bedroht, wieder ist die Dorfgemeinschaft gefragt.
Hier in den Bergen leben wir noch nach alten Normen, das Einverständnis darüber hält uns zusammen, damit unsere Traditionen unangetastet bleiben. Über viele Generationen konnten wir sie bewahren, indem wir einschreiten , wenn sie in Gefahr sind.«
    Zustimmendes Gemurmel und Applaus. Der Bürgermeister fuhr mit wildem Eifer fort.
    »Jemand hat sich zu nahe an die alte Hütte im Wald gewagt! Ein Monster geht um, die Ordnung wankt. Es wird Zeit, die Waffen aus den Schränken zu holen und sich bereit zu machen für eine große Wolfsjagd. Ich bitte jeden guten Bürger unseres wunderbaren Ortes, das Seinige beizutragen, um das Untier zur Strecke zu bringen. Wir lassen uns nicht bedrohen, liebe Freunde, wir wehren uns, um unsere Frauen und Kinder, unser Vieh, unsere Traditionen und vor allem unsere Würde zu bewahren!«
    Lauter Jubel hatte die Bretter unter mir vibrieren lassen. Selbst die nebelschwere Dorfluft war aufgeladen von der Energie, die die Einwohner aufbrachten, um ihr Geheimnis (ihren Dorfgott!) zu schützen. Ein entrückter, blutrünstiger Ausdruck lag auf allen Gesichtern gleichermaßen, als wäre W. selbst gerade zu einem Monster mutiert. Fasziniert suchte ich gedanklich schon nach den geeigneten Adjektiven für die Szenerie, wurde dabei aber von dem Schnüffler gestört, der mit extrem bleichem Gesicht neben mich an den Zaun getreten war, während sich die Sportplatzversammlung langsam auflöste. Ich hing meinen eigenen Gedanken nach, und was ich am allerwenigsten auf der Welt brauchen konnte, war noch eine Grundsatzdiskussion mit IHM .
    »Wissen Sie, was das bedeutet?«
    »Nein, Herr Alt, und ich interessiere mich auch nicht für Ihre Interpretation, falls es das ist, was

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