Jagdzeit
Lefzen zurück und entblößt sein Gebiss. Ich drücke meinen Rücken, so fest es geht, an die Wand. Es gelingt mir nicht, den Blick von der Wunde abzuwenden. Am ganzen Körper zitternd, versuche ich, mich auf seine Frage zu konzentrieren. Mein Herzenswunsch. Ich weiß sehr genau, was das ist, doch wie formuliert man es?
Der Wolf scharrt ungeduldig mit der Vorderpfote.
»Ja, äh, also, mein Herzenswunsch. Ich möchte, dass die Geschichten zu mir kommen, wenn ich sie rufe, dass ich immer weiß, wie es weitergeht und wo es endet, und dass ich die richtigen Worte finde, es zu erzählen.«
Bestimmt eine volle Minute lang rührt sich keiner von uns beiden. Die Ungewissheit, ob ich richtig oder falsch geantwortet
habe, zerrt an meinen Nerven. Bis in die Zehenspitzen ist jeder Muskel meines Körpers angespannt, bereit, sich zu wehren, bereit, um mein Leben zu kämpfen.
»Gut gesprochen, Menschenfrau. Wir haben alle unsere großen Sehnsüchte, und es liegt an uns, den Weg zu ihrer Erfüllung zu finden. Darum gehört zu einem richtigen Herzenswunsch der aktive Teil. Erst wenn du bereit bist, etwas zu erzählen, wird die Inspiration dich finden.«
Inspiration! Schon wieder. Ich begreife, dass ich verdammt nahe dran bin, meine Quelle zu finden. Wenn sich in diesem Raum der Zugang befindet, dann werde ich ihn aufspüren. Doch zuerst heißt es, schlau sein und Zeit gewinnen. Der Teil von mir, der sich mit dem unvermeidlichen Tod bereits abgefunden hat, stellt katzenartig jedes einzelne Härchen auf, und ganz tief in mir, wo die immer noch verschollene Motzmarie zu residieren pflegte, finde ich den Mut, mich dem Raubtier zu stellen.
»Nun, Gagnrad, wenn ich die Regeln richtig verstanden habe, stehen mir nun auch drei Fragen zu. Wirst du sie mir beantworten?«
Der Wolf kräuselt gefährlich die Schnauze. Sein Körper bebt, als ein tiefes Grollen aus seinem Maul dringt.
»Wissen besitze ich, mehr als du dir vorstellen kannst, trank ich doch einmal aus der Quelle ewigen Wissens. Antworten kenne ich auf alle Fragen. Doch ich bin müde. Deiner Fährte bin ich lange genug gefolgt, ich will schlafen, verdauen und meine Wunde lecken. Darum beeil dich, damit wir zum Ende kommen.«
Er kennt den Zugang! Hat er nicht gerade die Quelle erwähnt? Jetzt keinen Fehler machen, nichts riskieren, eine harmlose Frage, eine Frage wie zum Beispiel …
»Warum hast du so große Ohren?«
Ich beiße mir auf die Lippen. Es ist so offensichtlich. Bestimmt durchschaut er meine Verzögerungstaktik. Doch zu meinem Erstaunen mustert mich das Raubtier mit Interesse. So unauffällig wie möglich bewege ich mich einen Schritt weiter an der Wand entlang, tue so, als suchte ich mir eine bequemere Stelle.
»Du denkst klug, Olivia. Darum höre meine Antwort. Erkenne selbst, damit du ganz begreifst.«
Etwas passiert mit mir, hier, mitten in der Baumstammfalle, etwas Unbeschreibliches lässt mich genau da verharren, wo ich gerade stehe. Es sind Geräusche, besser gesagt: Es ist eine ganze Geräuschkulisse, die um mich herum einsetzt. Wie der Piccadilly Circus in London am späten Nachmittag, nur dass es sich nicht um menschliche Laute handelt. Zweige knacken dort oben in der Baumkrone, Blätter rauschen im Wind, und das in einer Lautstärke, die jeder städtischen Autobahn Konkurrenz machen würde. Doch auch das Holz um mich herum ist nicht stumm. An der Rinde nagen Insekten, Würmer graben sich Wege hindurch, und die Zähne winziger Nagetiere scharren erschreckend scharf, als grüben sie Tunnel durch meine Schädeldecke. Jeder nächtliche Vogelschrei aus dem Wald klingt magisch und laut wie in einem meiner lebendigsten Albträume. Fasziniert folge ich dem Flug eines Falters über unseren Köpfen, höre seinen Flügelschlag, ein knisterndes, zärtliches Geräusch. Doch am deutlichsten sind Atem und Herzschlag des Wolfes neben mir zu hören. Ich spüre förmlich die Kraft dieses Tiermuskels, der Blut durch seine Adern pumpt, ich höre den Rhythmus seines Lebens, seines Seins, und finde mich auf allen vieren wieder, ihm gegenüber, während die Woge nachlässt und
die Klänge verschwinden, als würde jemand am Lautstärkeregler drehen.
»Beantwortet das deine Frage?«
Ich nicke nur und hocke mich auf meine Fersen. Der Wolf ist geschickter, als ich dachte. Er beherrscht irgendeinen Zauber, mit dem er mich einlullt. Gehetzt sehe ich mich in meinem wunderlichen Wurzelgefängnis um. Keine Tür, kein Durchgang, nicht einmal ein Spalt. Doch ich bin mir sicher,
Weitere Kostenlose Bücher