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Jagdzeit

Titel: Jagdzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Toman
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worden, wohl ein Relikt alter und einfacher Jagdmethoden. Nachdem ich sie etwa drei Monate lang beobachtet hatte, kam ich zu dem Schluss, dass sie tatsächlich in Vergessenheit geraten war. Mein Glück. Denn ich brauchte dringend ein sicheres Versteck.«
    »Die Chronik«, flüsterte Adrian fasziniert.
    »Ja, Herr Alt, die Chronik.«
    Der Unterberger drückte sich an Adrian vorbei und ließ sich in den Lehnstuhl fallen, von wo aus er zu ihm aufblickte.
    »Ich weiß nicht genau, warum, aber ich mag Sie. Ich habe Sie die letzten Tage genau beobachtet, und ich muss Ihnen sagen, dass ich von Ihren Methoden überrascht und fasziniert bin. Sie haben die richtigen Fragen gestellt und sind sehr bald auf den entscheidenden Hinweis, also auf mich, gestoßen. Das hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut. Sie wirken im ersten Moment so …«, er zögerte, »so durchschaubar. Aber genau das ist es, nicht wahr? Niemand rechnet damit, dass einer wie Sie auf Tarnung verzichtet. Sie haben meinem Bruder ganz schön zugesetzt.«
    »Ihrem Bruder?«
    »Sepp ist mein jüngerer Bruder. Mich reiht er gerne unter seine Geschwister, die der böse Wolf gefressen hat , ein.«
    Der Unterberger lachte kehlig.
    »Aber setzen Sie sich doch, Herr Alt.«

    Adrian ließ sich auf der Metalltruhe nieder, wodurch er wieder auf gleicher Höhe mit dem Unterberger war. Dieser holte unter dem Tischchen eine halb volle Flasche Cognac hervor. Eine teure Sorte.
    »Trinken Sie?«
    Adrian schüttelte den Kopf.
    »Alkohol sehr selten und offen nie.«
    »Sehr klug«, befand der Unterberger, ehe er einen tiefen Zug aus der Flasche nahm. Er schluckte nicht sofort, sondern ließ die Flüssigkeit genüsslich von einer Backe in die andere wandern, um sie zum Schluss mit gespitzten Lippen liebevoll einzusaugen.
    »Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja«, seine Augen funkelten, »die Chronik! Sie haben das ganz richtig zusammengesetzt, es gibt tatsächlich ein Kapitel, das in der offiziellen Version der Mimmer’schen Ortschronik nicht enthalten ist. Doch ich kenne dieses Kapitel, denn ich habe es selbst mehrfach nachgeschrieben. Die Tinte«, fügte er erklärend hinzu, »verblasst nach einiger Zeit. Mimmer hat mich schwören lassen, es nie auf der Maschine abzutippen, sondern stets die Handschrift zu bewahren, als unmittelbaren Beweis. Doch Mimmer hat die Tücke des Objekts nicht bedacht, blasser und blasser sind die Linien geworden, und so habe ich sie fein säuberlich, ohne auch nur einen Millimeter abzuweichen, Jahr für Jahr nachgezogen. Hier in dieser Höhle der Wahrheit, könnte man sagen.«
    Adrian schnappte nach Luft.
    »Die Chronik ist hier?«
    »Es wundert mich, dass Sie das überrascht. Es gibt keinen sichereren Ort in diesem ganzen verfluchten Dorf.«
    »Aber es braucht Ihnen doch nur jemand zu folgen! Sie
sitzen hier praktisch direkt unter den Füßen der Jäger. Was, wenn …«
    »Die Jäger meiden diesen Teil des Waldes. Nicht weit von hier kam Mimmer ums Leben, müssen Sie wissen, und es gibt so manches Gerücht um den Verbleib seines …«
    »Kopfes.«
    »Sie sind gut informiert. Ja, Mimmer hat für sein Bedürfnis nach Wahrheit bezahlt. Es ist keine große Schwierigkeit, einen Autounfall zu inszenieren. Ich bin nur froh«, er richtete seinen Blick auf einen Punkt über Adrians Kopf, »dass sein Schädel da gelandet ist, wo er am liebsten war.«
    »Wie bitte?«
    Adrian runzelte die Stirn. Der Unterberger sah ihn an.
    »Ich dachte, Sie kennen die Biografie.«
    »Ja, ich kenne sie. Mimmers Kopf ist nie gefunden worden. Also, woher wollen Sie wissen, wo er gelandet ist?«
    Unterberger lächelte.
    »Im Wald, wo sonst. Tief im dunklen Wald. Womöglich trinkt er immer noch Honigwein und lacht uns alle aus.«
    »Ich hätte Sie nicht für abergläubisch gehalten, Herr Unterberger. Fakt ist, dies ist kein sicherer Aufbewahrungsort für ein Dokument von so großer Wichtigkeit.«
    »Der Aberglaube ist weit verbreitet in unserer Gegend, müssen Sie wissen. Zudem überwache ich diesen Platz rund um die Uhr. Hier war seit Jahren niemand. Abgesehen von den Wölfen.«
    Adrian blickte instinktiv auf den flimmernden Monitor. Wölfe?
    »Aber es gibt in Mitteleuropa so gut wie keine frei laufenden Wölfe mehr.«

    »Es gibt viele Dinge«, sagte der Unterberger nachdenklich, »die wir mit unserem Menschenverstand nur sehr schwer begreifen können. In unserem Ort gibt es eine hohe Konzentration solcher Dinge. Zum einen das Waldgeheimnis, zum anderen das Dorfgeheimnis. Ich

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