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Jagdzeit

Titel: Jagdzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Toman
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persönlich denke nicht, dass diese beiden zu trennen sind. Eines bedingt das andere. Die Wölfe wiederum sind ebenfalls ein Teil davon. Etwas zieht die Wölfe an, genauso wie die Fragensteller.«
    »Aber um was für ein Geheimnis handelt es sich? Waldgeheimnis? Dorfgeheimnis? Was geht im Ort vor?«
    »Was das Waldgeheimnis betrifft, bin selbst ich überfragt. Mimmer wusste alles darüber, doch er hat nicht davon gesprochen. Er nannte es einfach ›den alten Teil‹ oder ›die Quelle unter den Wurzeln‹. Viel Dichtergehabe, wenn Sie mich fragen. Aber das Dorfgeheimnis will ich Ihnen verraten, denn das ist auch in Mimmers Sinn. Ich bin nicht mehr der Jüngste, Herr Alt, und als Mimmers Assistent …«
    »Moment!« Adrian war plötzlich hellwach. »Mimmer ist 1960 gestorben. Da haben Sie als sein Assistent gearbeitet? Dann müssten Sie ja heute …«
    »Ich bin siebzig Jahre alt.«
    Adrian starrte geschockt in das zwar faltige, aber dennoch jugendliche Gesicht des Unterberger. Er hätte ihn auf Mitte fünfzig geschätzt. Höchstens. An den verzögerten Alterungsprozessen in W. war wirklich etwas dran!
    »Herr Alt, Sie werden die Zusammenhänge verstehen, sobald Sie die Chronik gelesen haben. Doch das ist nicht der Grund, warum ich Sie hierhergeführt habe. Sie sind hier zu Ihrem eigenen Schutz.«
    »Zu meinem Schutz?«

    »Ja. Sie sind meine einzige Hoffnung. Viele haben sich für die Chronik interessiert, doch kein einziger Außenstehender hat es bisher so weit geschafft wie Sie. Und ich habe den Verdacht, dass es auch keinem mehr gelingen wird. Die Dorfgemeinschaft ist gerade erst erwacht. Sie streichen schwer bewaffnet da draußen herum und werden sich nicht eher wieder zurückziehen, bis der Wolf erlegt ist.«
    »Es gibt keinen Wolf!« Adrians Stimme zitterte nun, er spürte die Ungeduld angesichts der fast gespenstischen Ruhe, die der Unterberger an den Tag legte.
    »Doch, Herr Alt. Der Wolf sind Sie.«
    Die beiden Männer starrten einander an. Der Unterberger griff unter seinen Overall und zog einen Schlüssel hervor, den er an einem dicken Lederband um den Hals trug. Er reichte ihn Adrian und deutete auf die Truhe unter ihm.
    »Wären Sie so gut? In der Truhe befindet sich eine Dokumentenmappe, bitte holen Sie sie heraus und geben Sie sie mir.«
    Adrian zögerte keine Sekunde. Mit zitternden Händen steckte er den Schlüssel in das Schloss der Truhe, öffnete den Deckel und nahm, während der Unterberger sich einen zweiten Schluck Cognac gönnte, die Mappe, den einzigen Inhalt der Truhe, heraus. Das war es also. Das Dorfgeheimnis! Das Ziel seiner Mission? Gegen seinen ersten Impuls, es augenblicklich in Sicherheit zu bringen, reichte er es dem Mann im Lehnstuhl, der die Cognacflasche unter den Tisch stellte und danach griff. Fast ehrfürchtig öffnete er die Mappe, blätterte in den Papieren, schien schließlich gefunden zu haben, was er suchte, und las mit rauer, aber fester Stimme vor:
    »Zu kostbar war das Dorfgeheimnis, als dass man das Risiko eingehen konnte, entdeckt zu werden. Und jedes Mal, wenn Gefahr
drohte oder, wie der Code unter den Jägern hieß, wenn der Wolf im Wald umging, wurde zur Jagd geblasen. Ob Schnüffler von außen oder Verräter aus den eigenen Reihen, niemand entkam der Jagd, niemand. Blutrot färbten sich bald gewisse abgelegene Plätze, doch davon wollte man im idyllischen Bergdorf nichts wissen. Hier wurde man alt und schwieg, und was man nicht ändern konnte, das nahm man in Kauf. Unumkehrbar.«
    Der Unterberger blickte Adrian über den Rand seiner Lesebrille an.
    »Mimmers Worte. Sie sehen, die Wolfsjagd ist nur ein anderer Begriff für das entschlossene Vorgehen gegen Eindringlinge. Und nichts anderes sind Sie, Herr Alt. Ein Eindringling, der droht, uralte Geheimnisse ans Tageslicht zu bringen. Die Jäger wissen Bescheid. Ihnen und mir galt die Rede.«
    Adrian schloss die Truhe und ließ sich erneut darauf nieder. Unumkehrbar . So war das also hier in W.
    »Lesen Sie!«, sagte der Unterberger und reichte Adrian die Mappe. »Kaum zehn Seiten, doch in denen finden Sie alles, was Sie wissen müssen.«
    Adrian nahm die Mappe und las mit klopfendem Herzen, was in den Papieren stand. Wortfetzen sprach er laut aus, als würden sie dadurch eher begreifbar. Immer wieder stockte er, um schließlich umso gebannter weiterzulesen. Gebrechen des Alters, Schmerz, Verlust. Geheimnis des Lebens. Alchemistische Versuche. Stein der Weisen. Kreislauf des Lebens. Ewigkeit. Ein alter

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