Jagdzeit
Menschheitstraum also, dachte Adrian. Dem Tod ein Schnippchen schlagen. Der Unterberger lächelte nur verträumt.
Ein Fremder mit roten Haaren. Eine kleine Stadt im Süden. Ein Geheimnis.
»Ein neuer Dorfgott?«
»O ja, der Dorfgott.«
Adrian sah gehetzt auf. Es war ihm nicht aufgefallen, dass er die Worte laut ausgesprochen hatte, doch die Antwort des Unterberger holte ihn wieder in die Realität zurück.
»Also … also ist es wahr?«
»Jedes Wort.«
»Und das hier sind die Originale? Es gibt keine Abschrift?«
»Keine.«
Adrian schloss hastig die Dokumentenmappe, drückte sie fest an sich und sprang auf.
»Wo wollen Sie hin, Herr Alt?«
Adrian zog sein Handy hervor, stellte frustriert fest, dass er in der Grube keinen Empfang hatte, und machte Anstalten, die Leiter nach oben zu klettern.
»Herr Unterberger, ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll. Sie haben mir sehr geholfen. Diese Dokumente müssen sofort in Sicherheit gebracht werden und, noch wichtiger, ich muss …«
Der Unterberger schüttelte langsam den Kopf.
»Nicht so eilig, Herr Detektiv! Ich habe seit Jahren auf diesen Augenblick gewartet, nun gilt es, den richtigen Moment abzupassen. Die Jagd ist in Gang, wie stellen Sie sich das denn vor, mit dem Dorfgeheimnis unterm Arm da jetzt hinauszuspazieren. Wir müssen warten. Zwei, drei Tage, bis sich die Aufregung gelegt hat. Die müssen denken, dass Sie geflohen sind, dann erst können wir es riskieren, vorsichtig und bei Nacht den Wald zu durchqueren. Ich habe Sie zu Ihrer eigenen Sicherheit hierhergebracht, Herr Alt. Außerdem ist es von großer Bedeutung, dass wir in allen Details besprechen, was mit den Informationen passieren soll. Damit darf nicht leichtfertig
umgegangen werden. Mimmers Anordnungen diesbezüglich waren eindeutig. Ihre Auftraggeberin, Herr Alt, darf keinesfalls …«
»Sie sperren mich ein?«
Entsetzt blickte Adrian den Mann an, der nun, bei diesem düsteren Licht, versunken im Lehnstuhl, doch älter aussah als zuvor.
»Ich schütze Sie, Herr Alt, und ich schütze Mimmers Nachlass. Er darf nicht in die falschen Hände geraten! Schon einmal, vor Jahren, wollte eine englische Lady mit mir Geschäfte machen. Sie nannte sich Lady Grey.«
»Die Biografin?«
»Eben die.« Er beugte sich vor, Sorge schwang in seinen Worten mit. »Ich weiß, wer Sie beauftragt hat, und ich ersuche Sie dringend … Nicht, Herr Alt, das ist sinnlos!«
Adrian hörte nicht mehr zu. Er kletterte entschlossen die Holzleiter hinauf, die Dokumentenmappe fest unter den Arm geklemmt.
»Sie müssen mir vertrauen. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, Herr Alt!«
Verschlossen. Adrian drückte gegen die Falltür, so fest er konnte, doch sie bewegte sich keinen Millimeter. Er saß in der Falle. In der Wolfsfalle, um genau zu sein.
»Ich muss darauf bestehen, Herr Unterberger«, stieß Adrian hervor, alle Anstrengung auf die Falltür gerichtet, »dass Sie mich sofort hier rauslassen. Was ich in Mimmers Papieren gelesen habe, ist entsetzlich. Ich weiß, dass man hinter mir her ist, aber es gibt da noch jemanden, der in Gefahr ist. Ich kann nicht tatenlos hier sitzen, während …«
»Sie müssen! Ich setze nicht Mimmers letzten Wunsch und
mein Lebenswerk aufs Spiel. Wir machen uns auf den Weg, sobald die Luft rein ist. Nicht früher!«
Adrian blieb keine Wahl. Es ging um Olivia Kennings Leben. Er musste hier raus. Mit letzter Kraft stieß er mit der Schulter gegen die Falltür.
7 Weißt du, wie man senden und tilgen soll?
Ich öffne die Augen. Im ersten Moment spüre ich eiskalte Panik, weil ich absolut nichts sehen kann, bis ich draufkomme, dass meine Arme immer noch meinen Kopf umfassen. Vorsichtig löse ich mich aus der Verkrampfung. Viel mehr als zuvor kann ich auch nicht erkennen, was aber daran liegt, dass es um mich herum stockfinster ist.
Durch eine sonderbare Verkettung von Umständen, die mir ein eigentümliches Déjà-vu-Erlebnis bescheren, bin ich offensichtlich durch die Wurzeln des Baumes gebrochen und hocke nun irgendwo darunter. Ich schaudere bei der Erinnerung an die ekligen, sich windenden Wurzeln. Noch grässlicher ist der Gedanke, wie knapp ich den gierigen Wolfszähnen und damit dem sicheren Tod entronnen bin. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er so ohne Weiteres auf seinen Snack verzichtet, der nun auch noch im praktischen Frischhalte-Erdloch hockt. Düstere Aussichten. Es sei denn, das Loch hat einen Ausgang. Blind taste ich um mich. Wurzeln, Wurzeln, überall
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