Jagdzeit
Oberschenkel erkennen. Ich drehte mich um, lief hinaus, direkt zur Garderobe, holte meine Kleidung und zog mich sorgfältig an, inklusive Schal und Windjacke. Dann setzte ich mich in eine Ecke und wartete, bis meine Freundin und ihre Mutter besorgt nach mir suchten. Ich fuhr nie wieder mit ihnen ins Thermalbad.
Mit fest zusammengepressten Lippen lese ich die Buchstaben auf der Tür zum mittleren Gang. Augenblicklich fühle ich mich wieder wie zwölf.
NACKTBEREICH. Zutritt nur für Suchende.
Warum zögerst du? Ist es nicht dein größter Wunsch, die Quelle zu finden? Glaubst du wirklich, der staubige, verlassene Tunnel dort bringt dich weiter?
Das ist schon richtig. Aber es ist nun einmal so, dass ich kein Nacktmensch bin. Noch nie gewesen. Ich gehöre nicht zu diesen
fröhlichen Erdenbewohnern, die daheim nackig zu Ethnomusik raffinierte Thai-Gerichte zubereiten. Ich war in meinem Leben an keinem FKK-Strand, meide öffentliche Saunen und wickle mich sogar nach dem Sex augenblicklich in einen langärmligen Kimono. Der halbjährliche Frauenarztbesuch bereitet mir jedes Mal schlaflose Nächte, Angstschweißausbrüche und Übelkeit. Außerdem …
Ich zucke zusammen. Über mir, am Absatz der Leiter, habe ich deutlich das Aufsetzen von vier Pfoten gehört, von vier großen, mit Krallen bewaffneten Pfoten. Was mache ich nur? Das Monster ist immer noch hinter mir her. Ich halte die Luft an und lausche angestrengt. Da ist etwas zu hören, deutlich genug. Tiefe, schnüffelnde Atemzüge. Er folgt meiner Spur. Er kann mich riechen.
Sofort beschleunigt sich mein Puls. Wie viel Zeit bleibt mir, ehe er mich gefunden hat? Eine Minute? Zwei? Es ist absolut ausgeschlossen, dass ich mich ausziehe. Die Schuhe vielleicht, doch vollständige Entblößung stellt für mich eine Verletzung meiner Intimsphäre dar und kommt nicht infrage.
Ein lautes, bitterböses Knurren am Absatz der Leiter über mir reißt mich aus meinen Überlegungen. Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Die Worte meiner zwölfjährigen Freundin klingen mir im Ohr: »Das kontrolliert doch keiner.« Wie wahr. Ohne weiter zu zaudern, öffne ich die Tür zum Nacktbereich, gehe vollständig bekleidet hindurch und schließe sie hinter mir. Durch das angelaufene Glas meine ich, die Bewegung von etwas Grauem, Behaartem draußen wahrzunehmen. Vorerst bin ich in Sicherheit, doch ich habe das Gefühl, der Wolf kennt die Wege hier unten weit besser als ich. Daher heißt es wachsam bleiben.
Ich sehe mich um. Im Verhältnis zur bisherigen Vorherrschaft der Natur bei meinem Abenteuer, ist das hier ein regelrechter Zivilisationsschock. Doch was ist es überhaupt? Tatsächlich unterscheidet sich der ovale Raum nicht sehr von dem, was man sich von dem Nacktbereich in öffentlichen Bädern erwartet. Boden und Wände sind in Anthrazit gefliest, die Decke erinnert an eine Tropfsteinhöhle, nur dass keine Stalaktiten von oben herabwachsen, sondern Wurzelenden. Genau in der Mitte befindet sich ein riesiger roséfarbener Salzstein, der gleichzeitig die Lichtquelle ist. Es wirkt so, als brenne in seinem Inneren ein Feuer. Rund um den Stein hat sich eine Wasserpfütze gebildet, die in diesem flackernden Pastelllicht fast magisch wirkt.
Fasziniert trete ich näher und betrachte den Salzstein. Ich strecke die Hand aus, ziehe sie jedoch sofort zurück. Etwas unfassbar Heißes glüht dort drin, es tanzt und zuckt wie ein lebendiges Wesen. Kaum kann ich meinen Blick abwenden. Als ich es doch tue und dabei in die Pfütze zu meinen Füßen schaue, wird mir urplötzlich so heiß, als flackerte das Feuer direkt in meinem Kopf. Ich kann nicht fassen, was ich dort sehe, das ist völlig unmöglich, unlogisch, unbegreiflich, doch als ich meine zitternden Hände auf meinen Bauch lege, spüre ich dort nichts als nackte Haut. Ich hyperventiliere.
Meine Kleidung ist einfach verschwunden. Völlig entblößt stehe ich inmitten dieses seltsamen Baderaumes und finde keine Nische, in der ich mich verstecken, keinen Fetzen Stoff, mit dem ich mich bedecken könnte. All die hässlichen Jugendträume fallen mir wieder ein, aus denen ich schweißgebadet erwachte, weil ich ohne Kleidung in die Schule gekommen war oder ohne Kleidung auf dem Sportplatz einige Runden laufen musste. Ich schlinge meine Arme um meinen Oberkörper und
hocke mich mit angezogenen Knien auf den Boden. Was jetzt? Ich kann doch schlecht ohne Kleidung weitergehen. Genauso wenig kann ich splitternackt ins Hexenhaus zurückkehren. Frusttränen
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