Jagdzeit
Wurzeln.
»Ha!«
Der Überraschungslaut entfährt mir, ehe ich mir auf die Lippe beißen kann. Still, Olivia, still, sonst findet dich der große, böse Wolf. Ich unterdrücke das hysterische Lachen, das meinen Körper erfasst. So ungefähr fühlt man sich wohl, kurz bevor man den Verstand verliert.
Meine Hand hat sozusagen Luft ertastet. Ich recke mich weiter vor. Mehr Luft. Und dann etwas noch Erfreulicheres. Eine Sprosse. Ich strecke mich, um ein wenig tiefer greifen zu können, und lächle zufrieden. Da ist eine zweite Sprosse unter der ersten. Es sieht ganz so aus, als befände ich mich am Absatz einer Leiter, die in die Tiefe führt.
Ohne noch mehr wertvolle Zeit verstreichen zu lassen, setze ich meinen Fuß auf die oberste Sprosse und taste mich vorsichtig weiter. Ich bin auf dem richtigen Weg, das muss der Zugang zur Quelle sein.
Vorsichtig klettere ich die Leiter hinab. Nach etwa fünfzehn, zwanzig Sprossen und einer bangen halben Ewigkeit habe ich wieder festen Boden unter den Füßen. Und noch eine Sache ist sehr positiv: Ich kann etwas erkennen.
Es wird heller, ganz eindeutig, hell genug, um überblicken zu können, wo ich mich befinde. Es ist eine Art Höhle oder Hohlraum mitten im Wurzelgeflecht, groß genug, um aufrecht darin zu stehen. Vor mir ist der Anfang eines von Menschenhand gegrabenen Tunnels zu erkennen. Mit Sicherheit die Fortsetzung meines Weges. Es gibt nur ein einziges Problem: Von der Stelle aus, an der ich stehe, zweigen drei Gänge ab.
Links von mir befindet sich ein Tunnel, der wenig benutzt aussieht. Der Boden ist übersät mit Schmutz und grauer Asche, trockene, dornige Kletterpflanzen zieren die Wände, von der Decke hängen Milliarden Spinnweben, und über allem liegt eine dicke, ungesund aussehende Schicht aus Staub, Schimmel und einer undefinierbaren Substanz, die grün und giftig aussieht. Ein leerer Türrahmen hängt schief in den Angeln, zerbrochenes Glas liegt herum, ebenso wie ein vergammelter, ehemals glänzender Messingknauf. Kein angenehmer Weg, so viel steht fest.
Rechts von mir wiederum wird der Eingang von einer massiven Panzertür versperrt, auf der ein Schild mit dem Hinweis »Zutritt verboten« hängt. Verlockend, aber leider habe ich keinen blassen Schimmer, wie man so eine Panzertür knackt. Bleibt der mittlere Gang. Doch den kann ich nicht nehmen. Der kommt überhaupt nicht infrage! Also wohl am ehesten den Dorn- und Spinnwebparcours. Das sind zumindest Dinge, mit denen ich umgehen kann. Selbstverständlich probiere ich zuerst, ob die Panzertür nicht doch per Zufall unversperrt ist, aber egal, wie fest ich am Türgriff ziehe und zerre, nichts bewegt sich. Verdammt. Ich wende mich nach links, als plötzlich wieder diese neue, klare Stimme mit mir spricht, die sich schon im Hexenhaus bemerkbar gemacht hat.
Warum nimmst du nicht den Mittelweg? Du weißt doch, dass das der richtige ist.
Ja, ja, das weiß ich, aber es ist nun einmal so: Es gibt tatsächlich eine Sache, vor der ich größere Angst habe als vor Raubtiermäulern, die mich bei lebendigem Leib verschlingen, dem Flügelschlag großer Vögel oder den Träumen von machthungrigen Hexen. Diese Angst begleitet mich schon, seit ich denken kann. Ich weiß noch genau, wann ich zum ersten Mal vor einer Tür wie jener gestanden habe, die den mittleren Tunnel blockiert.
Ich war zwölf Jahre alt und hatte gemeinsam mit einer Schulfreundin und deren Mutter einen Sonntagsausflug zu einem noblen Thermalbad gemacht. Wir schwammen einige Längen im Sportbecken und setzten uns dann, kichernd, Geheimnisse besprechend, in den heißen Whirlpool. Nach einer Stunde jagte uns das Thermalbadpersonal raus, weil wir die alten Leute von ihrer wohlverdienten Entspannung abhielten.
Meine Freundin und ich suchten daraufhin nach ihrer Mutter, die inzwischen in einem anderen Teil der Therme unterwegs war. Wie angewurzelt blieb ich vor der Tür stehen, die diesen Bereich abteilte.
»Komm schon!«, rief meine Freundin, doch ich wich Schritt für Schritt von der Tür zurück, während ich mit weit aufgerissenen Augen auf das Wort starrte, das in dicken schwarzen Lettern auf der Glastür geschrieben stand.
NACKTBEREICH.
Darunter, in kursiver Schrift: Zutritt erst ab 16.
Meine Freundin bemerkte meinen Blick und zuckte mit den Schultern.
»Das kontrolliert doch keiner.« Ohne weiter auf mich zu achten, öffnete sie die Tür und verschwand dahinter. Kurz bevor mir der Blick wieder versperrt wurde, konnte ich nasse Pobacken und
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