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Jagdzeit

Titel: Jagdzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Toman
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geschnitzten Wendeltreppe entpuppen, die um den Stamm herum in die Tiefe führt.
    Die stellenweise schon recht wurmzerfressene Treppe ist ebenfalls über und über mit eingeritzten Zeichen verziert, die ich nach meiner Erfahrung mit Frau Wurd als Runen identifiziere. In langen Ketten schmücken sie das Holz, als erzählten sie eine Geschichte in einer uralten Sprache. Es ist fast so, als atmeten sie und flüsterten zu mir. Fasziniert gehe ich in die Hocke,
um mit der Hand über die ornamentierte Oberfläche zu streichen. Die Linien, die in meinen Handteller gebrannt sind, fühlen sich warm an. Erstaunt untersuche ich meine Haut.
    »Woher stammt das Zeichen da? Wie ist es in deine Hand gekommen?«
    Ich schreie auf. Die Stimme des Wolfes trifft mich so unerwartet, dass ich beinahe kopfüber die steile Wendeltreppe hinabgestürzt wäre. Ich reagiere instinktiv und bringe es tatsächlich fertig, die Baumsäule zwischen mich und den Angreifer zu bekommen. Das verschafft mir Zeit, ist aber keine Lösung des Problems, das ist mir klar.
    »Ich habe dich etwas gefragt«, knurrt das Monster kehlig. Meine eigene Stimme zittert zwar etwas, ist aber laut und deutlich, als ich ihm antworte.
    »Ach ja, Meister Gagnrad? Das nennt man wohl ein Patt.«
    »Du hast die eine Frage gestellt, Olivia. Die verbotene Frage!«
    »Die verbotene …«
    Ich lege die Stirn in Falten und denke nach. Diese minimale Konzentrationsschwäche hätte ihm beinahe genügt. Mit weit aufgerissenem Maul springt er um den Stamm herum. Meine eigene Ungeschicklichkeit rettet mich, denn vor lauter Todesangst stolpere ich bei meinem Ausweichmanöver und falle der Länge nach hin, während der Wolf über mir ins Leere schnappt. In Panik krabble ich wieder hinter die Säule, von wo aus ich jede Bewegung des Tieres beobachte.
    »Glaubst du wirklich, Menschenfrau, dass du mir entwischen kannst? Hast du nicht inzwischen gelernt, dass weder Dickicht noch Wurzeln oder Türen ein Hindernis sind? Hast du nicht selbst erlebt, wie mächtig die Sinne meiner Gattung sind? Auch dieser Herzstrang, hinter dem du dich zu verstecken versuchst,
wird dich nicht schützen. Also sag mir augenblicklich, was das Zeichen in deiner Hand bedeutet.«
    »Gerne. Wenn du mir verrätst, wo dein zweites Auge …«
    Er heult. Unheimlich und entsetzlich laut hallt die Wolfsstimme von den Erdwänden der Halle wider, und ich muss mir die Ohren zuhalten.
    »Ihr Menschen haltet euch für die Krone der Schöpfung, nur weil es euch gelungen ist, Mord auf Distanz zu einer sportlichen Disziplin zu machen. Ihr müsst endlich lernen, Respekt vor anderen Jägern zu haben. Ihr schießt uns wund, treibt uns in eine Ecke, und dann wollt ihr mit uns Handel treiben. Klugheit nennt ihr das, Feigheit sagt der Wolf dazu.«
    »Weißt du, Gagnrad, für solche politischen Diskussionen bin ich überhaupt nicht in Stimmung. Das besprichst du besser mit dem örtlichen Jägerverband oder dem Oberförster oder von mir aus mit dem Landwirtschaftsminister. Im Ernstfall schreib einen Beschwerdebrief an den WWF. Ich muss weiter.«
    Wütend bleckt der Wolf die Zähne. Drei Sekunden später hat er damit meinen linken Arm gepackt und mich zu Boden gezerrt. Ich trete mit den Beinen nach ihm, doch er scheint es nicht einmal zu spüren. Eine irre Wildheit glänzt in seiner meerblauen Pupille, während er meinen Arm mit einer unbändigen Kraft malträtiert.
    Hier in dieser unterirdischen Halle gibt es jetzt nur das Tier und mich. Aber ich habe nicht vor, kampflos aufzugeben. Denn in mir, der Großstadtfrau, ist mittlerweile ein Stück Natur erwacht - auch ich kann Widerstand leisten. Triumphierend ziehe ich mit der freien rechten Hand die einzige vorhandene Waffe aus meinem Cocktailtäschchen und sprühe dem Wolf mit einem Kreischen eine mehrfache Dosis »Exotic
Flowers«-Deodorant in sein eines Auge. Heulend und wimmernd lässt er von mir ab, doch ich nehme mir nicht die Zeit, den unmittelbaren Effekt meiner Attacke zu bestaunen, sondern laufe, so schnell mich meine weichen Beine tragen, die Wendeltreppe hinunter in die Tiefe.
     
    Etwa einhundert Stufen lang windet sich die Treppe rund um das, was ich nunmehr als unglaublich dicken Wurzelstrang - Herzstrang, sagte der Wolf - erkenne, während es kontinuierlich dunkler wird. Genau in dem Moment, wo ich das Tempo radikal reduzieren muss, um nicht zu fallen, weil ich - wieder einmal! - durch völlige Dunkelheit tapse, teilt sich der Wurzelstrang und mit ihm die Treppe. Ich erkenne es

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