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Jagdzeit

Titel: Jagdzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Toman
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macht sich ja tagtäglich eine ganze Menge Gedanken darüber, was einem im Alltag so zustoßen kann: von der Leiter stürzen, am Zebrastreifen von einem handyphonierenden BMW-Fahrer übersehen werden und als Komapatient auf der Intensivstation landen. Aber von einem Schwarm Waldkäuzen entäugt zu werden, das ist eine ganz neue Form der Qual, eine, die ich mir im Leben nicht …
    »AAAAAAAHHHHHHHHHH!«
    Endlich habe ich meine Stimme, und anscheinend auch meinen Verstand, wiedergefunden. Schlechter Zeitpunkt! Ich befinde mich in Krallenweite des größten und bedrohlichsten der Waldkäuze, der gerade den spitzen, scharfen Schnabel weit öffnet, den Kopf ruckartig hin und her bewegt und die letzten Worte krächzt, die ich höre, ehe ich mich ausblende:
    »Kuwitt! Kuwitt! Besser nicht gebeten, als zu viel geboten! Die Gabe fordert stets ein Opfer. So lautet der Hexe Schicksalsspruch.«
    Der hundertfache Antwortschrei der Käuze bringt mich endgültig um den Verstand, der Schmerz ist gnädig stumpf.
     
    Das Nächste, was ich bewusst wahrnehme, ist die Empfindung eines grässlich beschleunigten Sonnenaufgangs. Von absoluter Dunkelheit wanke ich in ein diffuses Licht, das von Schatten durchbrochen ist. Immer wieder streift mich ein Strahl, um gleich darauf zu verschwinden. Wo bin ich überhaupt?
    Ich halte mich mühsam auf den Beinen und taste nach dem diffusen Fleck.
    Meine Augen scheinen offen zu sein, dennoch ist alles beunruhigend verschwommen. Ich schüttle den Kopf, blinzle mehrmals und versuche erneut, etwas zu erkennen. Verblüfft starre
ich auf die Baumwipfel über mir, durch die ein morgendlich grauer Himmel schimmert. Die Nacht geht zu Ende. Ich sehe besser als vorher, eindeutig, doch etwas ist seltsam. Es scheint, als hätte die Welt ihre Dreidimensionalität verloren, alles ist flach und der Radius eingeschränkt, als ob …
    »NEIN!«
    Ich schreie, so laut ich kann. Ich wage es nicht, nach der Stelle zu tasten, weil ich mich davor fürchte, welche Wunde sich nun dort befindet. Das Opfer! O mein Gott! Das Opfer! Es ist wirklich passiert!
    Eine Bewegung neben mir erschreckt mich. Ich drehe den Kopf und sehe den Wolf, dessen Körper langgestreckt und geduckt ist, die Rute zwischen den Hinterläufen eingeklemmt, die Ohren flach angelegt, und die Zähne entblößt. Er zittert.
    »Gagnrad?« Meine Stimme klingt fremd in meinen Ohren. »Gagnrad, ich sehe nichts auf dem rechten Auge. Gagnrad, hörst du mich? Mein rechtes Auge, es ist blind!«
    Er knurrt leise, ohne mich anzusehen.
    »Sie kommen!«
    »Was? Wer?«
    »Siehst du sie nicht?«
    »Ich hab dir doch gerade gesagt, dass …«
    Doch in diesem Moment sehe ich sie. Im blassen Licht des Sonnenaufgangs kann ich erkennen, wo wir uns befinden. Wir sind wieder im Wald, auf einer Lichtung, die der gemalten auf dem Mosaikboden in jenem entsetzlichen Keller verteufelt ähnlich sieht, hinter uns rauscht ein Wasserfall und von vorn nähern sich die Jäger. Einige tragen Fackeln, und einige halten Gewehre auf uns gerichtet. An ihrer Spitze der Förster, seine
Augen noch glupschäugiger als sonst, Triumph und Wahnsinn dicht beieinander.
    »Haben wir dich endlich, du Bestie! Diesmal kommst du nicht mit einem Streifschuss davon! Wir schlitzen dich auf und füllen Steine in deinen Bauch«, brüllt er, die anderen lachen und grölen. Ich versuche, mich durch Bewegungen bemerkbar zu machen, da mir der Schreck die Sprache verschlagen hat. Ich will etwas sagen, will sie daran hindern, näher zu kommen, will ihnen erklären, dass der Wolf gar kein böser Wolf ist, sondern … Doch kein Laut kommt aus meinem Mund. Man scheint mich auch nicht wahrzunehmen. Womöglich, denke ich hysterisch, bin ich halb blind UND durchsichtig geworden, sodass mein Körper einfach Luft ist.
    »Tod dem Wolf!«, schreit einer der Jäger.
    »Tod dem Wolf!«, antworten die anderen im Chor.
    Der Wolf neben mir legt den Kopf in den Nacken und stößt ein helles, langes Heulen aus, das mein Herz in kleine Fetzen reißt. Da endlich spüre ich meine Beine wieder, endlich kann ich mich bewegen, und als ich es tue, mich entschlossen zwischen den Wolf und die Jäger stelle, ist auch meine Stimme wieder da.
    »Zurück!«, brülle ich, so laut ich kann.
    Das Letzte, was ich höre, bevor ich mit dem Kopf schmerzhaft auf dem Boden aufschlage, ist ein Schuss.

10 Mondkonsequenz
    Er stöhnte. Sein Auge tränte immer noch, und der Knall des Schusses hallte dumpf in seinen Ohren. Das Gewicht des leblosen Körpers in

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