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Jagdzeit

Titel: Jagdzeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Toman
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seinen Armen ließ ihn immer wieder schmerzhaft über Steine stolpern, die er im Dunkeln nicht sehen konnte. Wohin? Querfeldein. Die Straße wurde mit Sicherheit überwacht. Es war besser, niemandem über den Weg laufen. Zum Ortsrand von W., auf die Landstraße, von dort telefonieren, nicht früher, wegen der Sirenen. Wie gut, dass niemand die Richtung gesehen hatte, in die er verschwunden war. Unverschämtes Glück, um genau zu sein.
    Er blieb stehen und verlagerte das Gewicht etwas, vorsichtig, um die Mappe nicht zu verlieren, die er zwischen sich und den Körper geklemmt hatte, der leichenschwer und unangenehm feucht in seinen Armbeugen hing. Viel zu intim, diese hohe Dosis Körperkontakt, doch unvermeidlich. Er konnte sie ja schließlich nicht dort liegen lassen, zumal sie - womöglich - Beweismaterial war. Gewarnt hatte er sie, mehrfach, doch sie wollte ja nicht hören. Nicht auf ihn zumindest.
    Nachdenklich betrachtete er den Mond, der wie ein überdimensionales Pierrot-Gesicht blass am Himmel hing. Vollmond, beinahe. Der hatte seine Bahn, Monat für Monat, Jahr für Jahr, wich keinen Millimeter davon ab, kam nicht näher und entfernte
sich nicht. Mondkonsequenz, wie einfach. Manchmal sehnte er sich nach diesem Zustand, ein Weg ohne Ende, für sich, mit sich, und das war genug. Keine Scherben, kein Schweiß auf der Haut, keine Diskussionen, nur Umlaufbahn, Erdanziehung und Stille, weit draußen im Universum.
    Die Ortstafel, endlich. Ein Strich schräg durch den Namen. Wenn Endpunkte nur immer so klar markiert wären. Doch für gewöhnlich ging eines ins andere über, nahtlos, verschwommen. Chaos durch und durch.
    Er schleppte sich um die erste Kurve, gerade so weit, dass das verfluchte Dorf außer Sichtweite war, legte den starren Körper erleichtert am Straßenrand ab. Dann rieb er sich die Arme am Hemd trocken, drückte die Dokumentenmappe an sich und fischte sein Handy aus der hinteren Hosentasche. Hastig wählte er die Nummer, gab seine Position an und wusste, nun konnte er nichts anderes tun als warten.
    Atmete sie, oder täuschte er sich? Zu viele nächtliche Geräusche rundum, schwer zu sagen. Bewegt hatte sie sich jedenfalls nicht mehr, seit sie genau vor ihm umgekippt war. Ihren Herzschlag zu überprüfen wäre mit noch mehr Berührung verbunden gewesen, weshalb er es unterließ.
    Er dachte darüber nach, ob sie ihm leidtat, suchte in sich nach der passenden Emotion, tat sich aber schwer damit, das Etwas zu definieren, das er empfinden sollte. Der Tod an sich schreckte ihn nicht, warum auch? Ein Zwischenstadium im universalen Kreislauf, mehr nicht, Energie, die an einer Stelle verschwand, um anderswo wiederzukommen, kein Grund also, Verlust zu empfinden. Es gab keinen Verlust, die Gesamtenergie blieb immer gleich, nichts ging verloren, nur Veränderung fand statt. Und Veränderung hatte ihn noch nie geschreckt.
Doch er hasste Ungerechtigkeit und Verbrechen. Kein Mensch durfte die Naturgesetze selbst in die Hand nehmen, keiner!
    Er warf einen kurzen Blick auf ihr Gesicht, das im Mondlicht wie ein weißes Miniaturgebirge aussah: die Lider geschlossen, der Mund ein Stück weit geöffnet. Instinktiv folgte er den Linien, prägte sich den Schattenwurf der Nase ein, das Netz feiner Fältchen unter den Augen.
    Vorsichtig hob er die Hand und hielt sie einen Millimeter über ihren Mund. War da ein Hauch? Oder nur der Nachtwind? Er spürte einen sonderbaren Druck im Magen, doch auch der entzog sich jeder Beschreibung. Verdammt, warum hatte sie nicht hören wollen? Ihre demonstrative Oberflächlichkeit, natürlich, die sie wie einen knallroten Wimpel stolz vor sich hertrug. Wie so etwas das Leben kosten konnte, nun, das zeigte sich ja jetzt. Oder war es gar seine Schuld? Hätte er sie nicht unbeobachtet lassen dürfen? War ihm das Dokument wichtiger gewesen als ein Menschenleben? War das so?
    Ungeduldig schüttelte er den Kopf und sah zurück Richtung Dorf, wo alles verdächtig ruhig war. Was für ein entsetzlicher Wahnsinn hatte die Menschen in W. ergriffen? Warum mussten sie Gott spielen? Welcher Größenwahn lag allein in dieser Vorstellung?
    Ein Ton zerriss die Stille.
    Erschrocken zuckte er zusammen. Viel zu laut war der Klang der Sirenen. Der Motor, das Donnern der Reifen auf dem Asphalt. Er konnte nur hoffen, dass das Rettungsfahrzeug sie schnell genug fortbrachte, denn innerhalb kürzester Zeit würde die Dorfhorde brüllend und jaulend hinter ihnen her sein, die Bluthunde der Jäger als Vorhut und

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