Jagdzeit
die Kette und das Fußeisen, und daran, was sie bedeuteten, daran, wer Ken wirklich war. Sie hatte es fast vergessen.
Schweigend aß sie, und es wurde ihr plötzlich kalt. Der Wind umwehte sie sanft, fegte welke Blätter weg. Sie hörte von weit her Kens Stimme. „Es gibt nichts Schöneres als die Jagd“, sagte er. „Sie entspricht der Natur des Mannes. Und das ist das Problem mit der Hälfte der Welt. Der Mensch ist ein jagendes, tötendes Tier, und er hat nie die Möglichkeit, diesen Trieb auszuleben. Oh ja, sicher, mal jemandem ein Messer in den Rücken rammen, im Büro, ab und zu, aber kein richtiges, tägliches Töten, nicht das Wahre.“
Nancy drehte sich langsam zu ihm um, und Ken schien ihre Gedanken zu lesen. „Ich weiß, du willst sagen, was ist mit dem Krieg? Aber, Teufel noch mal, viele Jungs kommen doch nie in einen Krieg. Und von denen, die es schaffen, erleben nur wenige echte Schießereien, und der Hälfte von denen hat man es so eingebläut, dass Krieg schlecht ist, dass sie’s gar nicht genießen können. Sie wurden nicht darauf konditioniert, als sie jung waren, verstehst du? Nehmen wir die alten Griechen, die Spartaner; sie lernten töten, sobald sie laufen konnten. Wenn sie dann wirklich jemanden aufgespießt hatten, erschien es ihnen als die natürlichste Sache von der Welt. Die haben keine Zeit mit Schuldgefühlen verschwendet.“
Er brach ab und deutete von der Lichtung weg. „Schau!“, sagte er.
Auf der nächsten, niedrigen Erhebung stand ein toter, astloser Baum, dessen Rinde abgeschält war und der sich fast weiß vor dem Grün des Waldes abhob. Auf seiner Spitze, schattenhaft vor dem Himmel, saß ein Habicht, braun vor dem dunkler werdenden Blau, denn die Sonne war im Sinken.
Ken warf sich flach auf den Boden und flüsterte: „Jetzt wirst du mal sehen, wie man schießt. Was wollen wir wetten?“ Er kontrollierte den Entfernungsmesser auf dem Zielfernrohr. „Ich geb’ ihm dreihundert Yards. Kein Wind.“ Er steckte den Unterarm durch die Schlinge des Gewehrs und stützte den Kolben gegen Schulter und Wange.
Eine Art Entsetzen ergriff von Nancy Besitz, schlimmer als beim ersten Mal, als Ken den Hirsch geschossen hatte. Der Habicht war kaum zu erkennen. Er drehte seinen Kopf hin und her, wie auf einem Kugelgelenk. Warum ihn töten? Wozu? Der Habicht konnte kaum von ihnen wissen. Er war ein Vogel. Vögel wissen nicht, dass sie von etwas angegriffen werden können, das hunderte von Yards entfernt ist, von etwas, das sich am Boden befindet. Vögel kennen den Tod auf dem Boden nur, wenn sie selbst dort unten sind, den Fuchs oder Wolf oder Luchs, der plötzlich aus dem Dickicht hervorbricht, während sie an ihrer eigenen Beute zerren. Oder den Schrei eines größeren Vogels, eines Adlers, das Rauschen seiner Flügel und den bösartigen Schlag seiner Klauen, wenn er das frisch erbeutete Fleisch rauben will.
Aber nicht ein Gewehr, dreihundert Yards weit weg. Und einen kleinen Stahlkegel, so schnell, dass er nicht zu hören ist. Von irgendwo.
„Nein“, sagte sie. „Bitte nicht!“
Ken bewegte langsam den Abzug.
Sie langte nach seinem Arm, aber es war zu spät. Der Schuss krachte. Der Habicht verharrte für den Bruchteil einer Sekunde aufrecht und reglos. Dann, wie in Zeitlupe, lösten sich langsam Federn von seinem Hals, der kopflos zurückblieb. Der Körper fiel in sich zusammen; die Klauen lösten sich vom Baum; er fiel runter wie ein nasser Lappen.
So verlief auch der Rest des Nachmittags. Alles, was sich blicken ließ, wurde geschossen. Und Art und Greg erlegten noch mehr, den Schüssen nach zu schließen. Unaufhörlich dröhnte das Echo ihrer Schüsse.
Zuerst wurde Nancy übel. Doch schließlich kümmerte sie sich nicht mehr um tote oder verstümmelte Tiere. Als sie zum Seeufer zurückgingen, um Greg zu treffen, nahm sie nur noch Kens Schweigen und Männlichkeit war. Er ging neben ihr, physisch anziehend und dominant. Sie hatte das Gefühl, ihn immer gekannt zu haben, ihm immer gefolgt zu sein. Sein Gesicht, sein Körper, sein Geruch und seine Bewegungen waren ihr völlig vertraut. Martin war jemand anders in einem anderen Leben.
Greg lachte, als sie sich trafen. Seine Hände waren rot von Blut, seine Kleidung blutbefleckt. Er wies mit dem Daumen hinter sich in den Wald. „Der letzte, den ich erwischt habe, liegt nur fünfzig Yards von hier. Ein Fuchs. Ich habe einige Felle bei ihm gelassen.“
Ken grinste und sagte: „Wir warten.“
Greg verschwand. Sie hörten,
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